Frontal | Jugenddelegierter Paul Burgener

«Die Jugendlichen haben Angst vor dem sozialen Zerfall»

Paul Burgener: «Die Jugendlichen sind heute engagierter als vor 40 Jahren.»
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Paul Burgener: «Die Jugendlichen sind heute engagierter als vor 40 Jahren.»
Foto: RZ

Paul Burgener: «Politisch spüre ich die Jugendlichen in der Tat sehr wenig.»
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Paul Burgener: «Politisch spüre ich die Jugendlichen in der Tat sehr wenig.»
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Quelle: RZ 2

Paul Burgener, Jugenddelegierter des Kantons Wallis, geht demnächst in den Ruhestand. Im Interview spricht er über seine Erfolge, gescheiterte Versuche und seine Sicht auf die Jugend von heute.

Paul Burgener, welche drei Schlagworte fallen Ihnen spontan zur Jugend von heute ein?
Sehr direkt, sehr unterschiedlich und viel offener als früher.

Was ist mit faul, dauernd besoffen und schlechte Manieren?
Aus meiner Erfahrung als Jugenddelegierter und ehemaliger Lehrer und Schulleiter kann ich sagen: diese Jugendlichen gibt es. Allerdings machen sie nur einen verschwindend kleinen Teil dieser Altersgruppe aus. Auf der anderen Seite sind es diese Jugendlichen, die uns vor grosse Herausforderungen stellen.

Inwiefern?
Hier hat mir meine Aufgabe als Gemeinderat für Soziales die Augen geöffnet. Es gibt junge Erwachsene, die sich jeglichen Bemühungen der öffentlichen Hand konsequent widersetzen. Zum Beispiel Anstrengungen, sie in den Arbeitsprozess zu integrieren. Solche Jugendliche setzen teilweise ihre Eltern oder ihre Kollegen unter Druck, um nicht arbeiten zu müssen. Da erlebt man dramatische Geschichten.

Die Eltern unter Druck setzen, wie geht das denn?
Nun, diese Jugendlichen fordern von ihren Eltern finanzielle Unterstützung, öffnen keine Briefkästen und überlassen den Eltern alle administrativen Aufgaben, die ein Volljähriger zu erfüllen hat. Sie spielen mit dem Verantwortungsgefühl der Eltern, die ihre Kinder schützen, um ihnen Schlimmeres zu ersparen. Aber ich möchte wirklich betonen, dass diese Jugendlichen wirklich eine absolute Minderheit sind.

«Die Jugendlichen sind heute engagierter als vor 40 Jahren»

Gibt es also nur schwarz oder weiss?
Nein. Es gibt auch junge Leute, die zwar Schwierigkeiten haben, mit denen man aber arbeiten kann und die einer Hilfestellung aufgeschlossen gegenüberstehen. Der funktionierende Sozialstaat hilft diesen Jugendlichen. Solche junge Erwachsene hängen vielleicht einmal ein paar Jahre durch, fangen sich dann aber wieder und gehen ihren Weg im Leben. Der Grossteil der Walliser Jugend, ich würde sagen 90 Prozent, bereitet wirklich Freude. Sie finden ihren Platz in der Gesellschaft und stellen sich den Herausforderungen des Lebens. Was mir dabei auffällt ist, dass diese Jugendlichen teilweise sogar strebsamer sind, als es die jungen Leute vor 40 Jahren waren.

Die Jugend ist strebsamer als früher?
Ja. Ich denke, dass das mit dem heutigen Bildungssystem zusammenhängt. Die Jugend wird engagierter «gemacht». Will ein Jugendlicher heute ein Ziel erreichen, so muss er sich den Förderungsmassnahmen des Bildungssystems stellen und diese durchlaufen. Nehmen wir das Beispiel der Krankenschwestern. Diesen Beruf gibt es heute gar nicht mehr wie vor 30 Jahren. Früher machte man eine Lehre und war dann Krankenschwester oder Krankenpflegerin. Heute muss man eine Schule im tertiären Bereich besuchen, um als diplomierte Pflegefachkraft arbeiten zu können. Auch die Ansprüche der Firmen an die schulischen Leistungen der Leute, die sie für eine Lehrstelle rekrutieren, sind massiv höher als früher. Das bedeutet, dass die Jugendlichen heute mehr leisten müssen, um den gleichen Beruf auszuüben. Junge Leute, die bei diesem Spiel nicht mitmachen, haben Mühe, auf dem Arbeitsmarkt ihren Platz zu finden.

«Politisch spüre ich die Jugendlichen in der Tat sehr wenig»

Auf der anderen Seite sagt man, dass die Jugend heute, vor allem politisch, weniger engagiert sei als in Generationen davor.
Politisch spüre ich die Jugendlichen in der Tat sehr wenig, auch wenn es ein paar gute Beispiele gibt, wie die Aktivitäten des Jugendparlaments. Ich denke, dass die Jugend durch die Anforderungen an ihre Ausbildung wenig Zeit mehr hat, um sich so zu engagieren, wie es die Jugendlichen Ende der 1960er-Jahre getan haben.

Ist das nicht ein Risiko für die Gesellschaft, wenn die Jugend zwar gut ausgebildet ist, die politische Bildung jedoch auf der Strecke bleibt?
Vielleicht. Ich denke, dass dieses Problem aber noch andere Bereiche betrifft, wie zum Beispiel die Freiwilligenarbeit. Viele Vereine haben beispielsweise Mühe, junge Leute für die Arbeit im Vorstand zu finden. Auch hier ist sicher ein grosser Punkt, dass die jungen Menschen kaum noch Zeit für ein solches Engagement finden.

Sie sagen, die Jugend sei offener als früher. Was meinen Sie damit?
Die Jugendlichen von heute haben weniger Berührungsängste. Das merke ich in meiner täglichen Arbeit. Die Jungen äussern ihre Anliegen ganz offen und sind auch sehr spontan in der Umsetzung. Da hat die Schule beste Vorarbeit geleistet. Auf diese Herangehensweise muss man sich als Erwachsener und natürlich vor allem als Jugenddelegierter einlassen können.

Welche Themen bewegen die Jugendlichen in der heutigen Zeit?
Ein ganz grosses Thema ist nach der Ausbildung das Finden eines Jobs. Kommt im Wallis dazu, dass viele Jugendliche mit einer ausgezeichneten Ausbildung dem Wallis den Rücken kehren müssen, damit sie Arbeit finden. Das sind die Themen, die den jungen Leuten Sorgen bereiten. Ein weiteres Themenfeld, welches die Jugend berührt, ist die Angst vor dem gesellschaftlichen Zerfall.

Was heisst das genau?
Viele junge Leute erleben es, dass sich die Eltern scheiden lassen und sie sich in einer neuen Familienstruktur zurechtfinden müssen. Wer meint, dass 14-, 15-jährige Jugendliche nicht unter einer Scheidung der Eltern leiden, verkennt die Tatsachen. Ganz im Gegenteil, in diesem Alter werden junge Menschen enorm verunsichert.

Die Scheidungsrate liegt bei 50 Prozent. Ist das Wohl der Kinder also vielen Eltern egal?
Das würde ich so nicht sagen, aber klar ist: Bei einer Scheidung und der anschliessenden Bildung einer Patchwork-Familie stehen klar die Interessen der Erwachsenen im Vordergrund und nicht die der Kinder. In vielen Fällen müssen die Jugendlichen die Entscheidungen der Erwachsenen ausbaden.

Das steht im krassen Gegensatz zum Phänomen der «Helikoptereltern». Wie passt das zusammen?
Die Zahl der Kinder in einer Familie ist heute grundsätzlich kleiner als früher. Das führt dazu, dass sich die Aufmerksamkeit der Eltern auf die wenigen Kinder konzentriert, da ja aus diesen Kindern «unbedingt etwas werden muss». Viele Eltern versuchen ihre eigenen Träume, die ihnen selbst verwehrt blieben, was Ausbildung oder aber auch sportliche Leistungen betrifft, über ihre Kinder zu realisieren. Das setzt die Jugendlichen einem grossen Druck aus. Hinzu kommt, dass die Jugendlichen von heute sich mit Dingen aus der Erwachsenenwelt zwangsläufig beschäftigen müssen.

Was ist denn besser daran, heute Jugendlicher zu sein als früher?
Die Jugend von heute hat viel mehr Möglichkeiten. Früher war es so, dass die Eltern sämtliche Aspekte des Nachwuchses wesentlich beeinflussten. Sie sagten, welche Ausbildung man zu machen hatte und welche Hobbys die Kinder ausübten. Dem ist heute nicht mehr so. Unser Bildungssystem ermöglicht es allen, ihren Weg zu gehen. Hinzu kommt, dass der Staat den jungen Leuten viel mehr Möglichkeiten bietet. Bestes Beispiel ist mein Arbeitsfeld als Jugenddelegierter. Die kantonale Jugendkommission hat die Möglichkeit, jährlich 250 000 Franken für Projekte von Jugendlichen im ausserschulischen Bereich zu sprechen.

«Auch Jugendliche leiden unter einer Scheidung der Eltern»

Nach 15 Jahren als Jugenddelegierter gehen Sie nun dieses Jahr in Pension. Was waren Ihre grössten Erfolge in dieser Zeit?
Eine grosse Befriedigung bedeutet mir sicher, dass ich dem Posten des Jugenddelegierten ein Gesicht geben konnte, und dass der Posten heute ein Bestandteil in den Bemühungen des Kantons ist, die Jugend zu fördern. Rückblickend schaue ich auch zufrieden zurück, dass ich in vielen Gemeinden mithelfen konnte, neue Strukturen aufzubauen, und dass Jugendliche dank der staatlichen Unterstützung die verschiedensten Projekte realisieren konnten.

Was ist mit dem Vorwurf, Jugendarbeit erreiche immer nur die jungen Leute, die sowieso schon motiviert sind? An jene, die es eigentlich nötig hätten, komme man gar nicht heran.
Diese Bemerkung hörte ich oft. Aber ich sehe nicht nur die Direktbetroffenen, sondern setze auf den sogenannten Sogeffekt. Wenn motivierte Jugendliche ein Projekt auf die Beine stellen und nur ein oder zwei «Problemfälle» mitziehen, so ist schon viel erreicht. Gelingt es, einen Jugendlichen mit ins Boot zu nehmen und dadurch zu verhindern, dass er in eine Institution platziert werden muss, so führt dies zu Kosteneinsparungen für die öffentliche Hand und die Eltern von 600 bis 800 Franken pro Tag. Wenn man also mit Jugendarbeit nur einen solchen Fall verhindern kann, dann rechnen sich die Bemühungen sofort.

Gibt es Dinge, die Sie als Jugenddelegierter nicht erreicht haben, beziehungsweise was für Herausforderungen warten auf Ihren Nachfolger?
Was ich leider nie geschafft habe, ist die Jugendlichen aus anderen Kulturkreisen zu erreichen. Trotz intensiver Bemühungen nutzen Jugendliche anderer Kulturen, die im Wallis wohnsässig sind, die staatliche Jugendförderung sehr selten. Hier wird mein Nachfolger sicher weiterarbeiten müssen. Auch in Bezug auf das Zusammenleben zwischen Ober- und Unterwallisern gibt es noch viel zu tun. Der Pfynwald bildet für viele Jugendliche noch eine unüberwindbare Grenze. Was ebenfalls eine grosse Herausforderung für die Zukunft darstellt, ist die Abwanderung der Familien und folglich der jungen Leute aus den Bergdörfern. Da sind noch viele Anstrengungen seitens des Staates aber auch der Gemeinden nötig. Ich denke dabei an Steueranpassungen, bessere Transportmöglichkeiten oder die Beibehaltung der Schulen. Es darf nicht nur alles unter dem finanziellen Aspekt betrachtet werden. Verschwinden nämlich die Bergdörfer, verliert das Wallis enorm viel an seiner Substanz.

Martin Meul

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Infos

Zur Person

Vorname Paul
Name Burgener
Geburtsdatum 3. Juli 1953
Familie verheiratet, drei Kinder
Funktion Jugenddelegierter des Kantons
Hobbies Rebbau, Fussball

Nachgehakt

Ich wäre gerne wieder 16 Jahre alt. Nein
Zum Glück sind meine eigenen Kinder erwachsen. Ja
Ich wäre gerne Jugenddelegierter vor 50 Jahren gewesen. Ja
Der Joker darf nur einmal gezogen werden.  

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Kommentare

  • Petsch - 23

    Aus meiner Sicht würde man das Geld wurde man besser anders investieren! Krankenschwester und andere "Büezer" Berufe sind bei vielen Jugendlichen nicht mehr gefragt! Der Herr soll man in den Spital in Visp oder Brig gehen. Dort sind vorallem Deutsche und Holländerinen im Einsatz.

  • z'wirthni - 71

    Hallo Paul B.

    Danke für deine beruflichen Leistungen. Du warst wahrlich ein Vorbild für die Jugend. Alles Gute für deine anstehende Pension - Gruss Alwin

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