Einsiedeln | Martin Werlen im grossen Frontal Interview

«Die Kirche steckt in vielen Sackgassen»

Martin Werlen.
1/2

Martin Werlen.
Foto: RZ

Martin Werlen.
2/2

Martin Werlen.
Foto: RZ

Quelle: RZ 0

Martin Werlen ist der wohl berühmteste Mönch der Schweiz. Die RZ hat den ehemaligen Abt von Einsiedeln auf der Bahnfahrt nach Brig begleitet, wo er an einer Lesung sein neues Buch «Wo kämen wir hin?» vorstellt, das «beissen und stechen» soll.

Martin Werlen, Sie kehren gerade aus Deutschland zurück, wo Sie in einem Kloster Exerzitien begleiteten. Was war das Thema?
Ich probiere immer, die Gemeinschaft, die ich vor mir habe, zu bewegen. Sie dort anzusprechen, wo sie steht. Deshalb kann ich nicht zum Vornherein sagen, was ich machen werde. Es ist mir immer ein Anliegen zu bewegen. So vieles in Kirche und Gesellschaft ist festgefahren. Dabei sollte gerade die Kirche ein Vorbild darin sein, nicht alles beim Alten zu lassen, sondern Perspektiven und Visionen aufzuzeigen.

Nicht alles beim Alten zu lassen ist auch ein Thema in Ihrem aktuellen neuen Buch «Wo kämen wir hin?» Wieso dieser Titel?
Das Buch soll als Ermutigung dienen, mutige Schritte zu wagen. Der Titel ist ein Zitat des reformierten Pfarrers und Dichters Kurt Marti, der schrieb: «Wo kämen wir hin, wenn alle sagten, wo kämen wir hin, und keiner ginge, um zu sehen, wohin wir kämen, wenn wir gingen.» Das Thema des ganzen Buches ist «Umkehr». Man kehrt um, wenn man in einer Sackgasse steckt, beispielsweise im Auto. Umkehr ist nichts Ungewöhnliches, sondern etwas, das man jeden Tag erlebt. Verlieren können wir dabei eigentlich nichts. Vor einigen Jahren, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, hielt ich einen Vortrag in Budweis, an dem auch der Kardinal von Prag, Miroslav Vlk, anwesend war. Er sagte mir, dass er der glücklichste Bischof der ganzen Welt sei. Er könne nichts kaputt machen. Die Kirche ist nach dem Ende des Kommunismus so am Boden, er könne alles probieren, um etwas aufzu­bauen. Wir sind in einer ähnlich glücklichen Situation. Wir können etwas wagen.

«Die Kirche wird glaubwürdiger, wenn sie Macht los lässt»

Die Kirche steckt heute also in einer Sackgasse?
In sehr vielen.

Zum Beispiel?
In vielen Dingen tun wir so als ob. Zum Beispiel ist für mich das Problem nicht, dass heute viel weniger Leute in die Messe gehen als früher. Die Kirchen waren früher nicht voller, weil die Menschen alle glaubten. Es hatte auch mit der Machtposition der Kirche zu tun und mit dem gesellschaftlichen Druck. Wenn der Bäcker am Sonntag nicht in die Kirche gegangen wäre, so hätte seine Kundschaft ihm die Woche hindurch auch freigegeben. Ein Lehrer hätte seine Anstellung verloren. Wir sprechen von Kirche und meinen oft ein System, ein Machtsystem. Das Systemdenken hindert uns, als Kirche zu leben. Über Jahrhunderte war der Bischof ein Kirchenfürst. Das ist genau das Gegenteil, was ein Bischof eigentlich sein soll. Wenn Pfarrer «Hochwürden» genannt wurden, so bedeutete dies auch eine Höherstellung. Jahrhundertelang hat man das so gehalten. Jetzt ist es an der Zeit, sich davon zu verabschieden. Es ist gut, wenn die Kirche Macht verliert. Jesus selbst sagte, dieses Machtgehabe soll nicht sein. Sich von all dem zu verabschieden ist aber nicht so einfach.

Diese Haltung hat also viel Kontraproduktives erzeugt?
Ja. Wie geht die Kirche mit Menschen um, die zwischen alle Stühle gefallen sind? Das müssten ja eigentlich genau diejenigen sein, welche uns besonders am Herzen liegen. Faktisch sind es aber genau die, mit denen wir am Ende unserer Weisheit sind. Wenn wir als Kirche von jemandem, dessen Ehe gescheitert ist, nur noch als die wahrgenommen werden, die verurteilen und nichts Ermutigendes zu sagen haben, ist das bedenklich. Ein Mensch in Not kann zu allen anderen gehen, nur nicht zur Kirche. Papst Franziskus versucht, uns diesbezüglich wieder die Augen zu öffnen. Mit allen Widerständen, die da sind. In den Medienmitteilungen der Schweizer Bischofskonferenz ist Papst Franziskus noch kaum wahrnehmbar.

Woran liegt das?
An der Prägung durch das, was vorher war. Wir dürfen neue Wege gehen. Unseren Glauben müssen wir nicht verteidigen, unseren Glauben dürfen wir leben. Das ist ein grosser Unterschied. Es geht darum, Macht loszulassen, und das fällt niemandem leicht. Die Kirche wird aber glaubwürdiger, wenn sie Macht loslässt und durch ihr Leben überzeugt.

Die Kirche hat mit ihren Strukturen immerhin 2000 Jahre lang überlebt…
Ich mache eine Unterscheidung zwischen christlichem Leben und Christentum. Sehr viele Menschen verteidigen das Christentum und leben nicht das christliche Leben. Zum Beispiel die ganze Diskussion um die Verteidigung des Kreuzes in der Öffentlichkeit. Für mich ist das ein wertvolles Zeichen, aber ich würde es nie mit Petitionen verteidigen. In dem Moment, wo ich damit anfange, wird es zu einem Zeichen der Macht und nicht mehr der Hoffnung. Bei der Muttergottes hing auch kein Kreuz in der Wohnung und niemand spricht ihr ab, christlich zu sein. Ob wir Christen sind, hängt nicht davon ab, was für äussere Zeichen wir haben, sondern mit was für einer Haltung wir leben.

Sie provozieren…
Beim Schreiben denke ich immer wieder an ein Wort des Schriftstellers Franz Kafka, der sagte: «Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beissen und stechen. Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.»

Die deutsche Zeitung «Die Zeit» betitelte Sie einmal als «Der digitale Abt», der auf Twitter Tausende von Fol­lowern hat. Twittern Sie als Mönch jetzt anders?
(Schmunzelt) Ihre Frage zeigt, dass Sie nicht twittern. Ich schicke immer mal wieder ein Tweet, versuche originell zu sein. Sehr oft fotografiere ich von meinem Zimmer aus immer denselben Baum, und doch sieht er immer anders aus. Gerade wenn wir allen Grund haben, schwarz-weiss zu sehen, sollten wir die Nuancen nicht übersehen. Das habe ich getweetet am Tag der Präsidentenwahlen in den USA, als der Baum im Schnee stand, dahinter dunkle Wolken.

Was halten Sie von Donald Trump?
Seine Auftritte waren immer wieder von Verachtung geprägt. Ich frage mich: Wie kann jemand, der mit solcher Verachtung in der Öffentlichkeit auftritt, so viele Stimmen holen? Das macht Angst. Wenn wir so jemandem Verantwortung anvertrauen, und der Präsident der Vereinigten Staaten trägt eine sehr grosse Verantwortung, dann erschreckt mich das. Als der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Donald Trump kurz vor der Wahl traf, sagte Trump zu ihm: Wenn er Präsident werde, würden die USA Jerusalem zur ungeteilten Hauptstadt Israels erklären. Diese Aussage löste bei den Palästinensern gros­se Existenzängste aus. Unvorstellbar, was passieren wird, wenn Trump dieses Versprechen – gegen alle Abmachungen – einlösen wird. Wir sollten Leute in verantwortungsvolle Ämter wählen, die Menschen grundsätzlich mit einer positiven Haltung begegnen und nicht mit Verachtung.

Nach Ihrem Rücktritt als Abt nahmen Sie eine halbjährige Auszeit, ein Sabbatical, welche Sie im Kloster St. Martin in Ungarn und im Kloster Dormito in Jerusalem verbrachten. Wie haben Sie Ihr Sabbatical erlebt?
Das Schöne war, einmal keine Verantwortung mehr zu tragen und Musse zu haben fürs Lesen und Kennenlernen und Diskutieren mit Menschen. In Ungarn war ich viel mit der Bahn unterwegs. Dort ist Bahnfahren etwas für die einfachen Leute. Viele waren erstaunt, dass ich kein Auto benutzt habe. Ich habe es sehr geschätzt, mit Menschen zusammenzukommen, die mich nicht kennen und mich nicht schon irgendwo eingeordnet haben.

Jerusalem haben Sie schon mehrmals besucht. Wie erleben Sie den Konflikt Israeli - Palästinenser?
Oft war ich mit Autostopp unterwegs. So komme ich in Kontakt mit den Bewohnern. Dabei habe ich leichter Zugang gefunden zu den Palästinensern. Sie sind sehr gastfreundlich. Es freut sie, wenn man sich für sie interessiert. Hier in der Schweiz nehmen wir die Situation und die Not der Palästinenser kaum wahr. Die meisten besitzen keinen Pass, leben eingemauert in ihren Städten. Bethlehem beispielsweise ist eine palästinensische Stadt. Seit 2003 ist die Stadt von einer Mauer umschlossen. Kein Palästinenser darf die Stadt ohne Erlaubnis von Israel verlassen. Die Israeli sind sehr zurückhaltend. Ich kenne Israeli und ich kenne Palästinenser. Leider ist es aufgrund der gemachten Erfahrungen praktisch ein Ding der Unmöglichkeit, Israeli und Palästinenser zusammenzubringen.

«Bei der Muttergottes hing auch kein Kreuz in der Wohnung»

Waren Sie dort auch in Ihrer Mönchstracht unterwegs?
Ja, manchmal schon, wenn es nicht gerade 40 oder 45 Grad heiss war.

Und Sie bekamen nie Probleme?
Im Palästinensergebiet nie, in Israel manchmal schon. Da kam es schon mal vor, dass ich beschimpft oder angespuckt wurde.

In Bethlehem steht das 1952 auf Initiative des Walliser Paters Ernst Schnydrig gegründete Kinderspital Bethlehem…
Das Caritas Hospital, eine christliche Institution, hat eine unglaublich wichtige Bedeutung für diese Region. Aber um einen Eindruck von der Problematik zu bekommen: Wenn ein palästinensisches Kind aus medizinischen Gründen verlegt werden muss, bedeutet dies: Es muss nach Jerusalem in die Klinik. Dafür braucht es die Erlaubnis von Israel. Der Ambulanzwagen darf Bethlehem aber nicht verlassen. Der kleine Patient muss beim Checkpoint umgebettet werden. Auf der anderen Seite der Mauer wartet ein anderer Krankenwagen, der das Kind nach Jerusalem bringt. Manchmal sterben die Kinder, weil der Transport zu lange dauert.

Bethlehem ist ja die Geburtsstadt von Jesus Christus. Was haben Sie für Wünsche für die Weihnachtszeit?
Uns sollen wieder vermehrt die Augen aufgehen für das, was wir an Weihnachten feiern. Wir machen während der Weihnachtszeit so viel rundherum und verlieren das aus den Augen, worum es eigentlich geht: Gott sucht uns dort auf, wo wir sind.

In der reformierten Schweiz haben im November die Jubiläumsfeierlichkeiten begonnen: 500 Jahre Reformation. Was sagen Sie zur Ökumene?
Mein neues Buch trägt die Widmung: «Für alle Getauften, die mutig den Glauben leben, statt ängstlich die Konfessionsgrenzen zu hüten – als Dank und als Ermutigung». Das grosse Problem ist nicht, ob wir katholisch oder reformiert sind. Die grosse Frage ist, ob wir als Getaufte leben.

Frank O. Salzgeber

Artikel

Infos

Vorname Martin
Name Werlen
Geburtsdatum 28. März 1962
Funktion Mönch
Hobbies lesen, Musik hören, diskutieren, laufen
Ich vermisse es, Abt zu sein. Nein
Die katholische Kirche muss reformiert werden. Ja
Ich spiele wider Badminton. Nein
Der Joker darf nur einmal gezogen werden.  

Artikel

Kommentare

Noch kein Kommentar

Kommentar

schreiben

Loggen Sie sich ein, um Kommentare schreiben zu können.

zum Login

Sitemap

Impressum

MENGIS GRUPPE

Pomonastrasse 12
3930 Visp
Tel. +41 (0)27 948 30 30
Fax. +41 (0)27 948 30 31