Interview | Pascal Stoebener, Chef Naturgefahren Kanton Wallis

«Im Mattertal ist das Risiko sicherlich sehr hoch»

«Ich würde sagen, dass wir 95 Prozent im Griff haben», erklärt Pascal Stoebener, Chef Naturgefahren beim Kanton Wallis.
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«Ich würde sagen, dass wir 95 Prozent im Griff haben», erklärt Pascal Stoebener, Chef Naturgefahren beim Kanton Wallis.
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Pascal Stoebener ist der Chef Naturgefahren beim Kanton Wallis. Ein Gespräch über gefährliche Regionen im Wallis, neue Techniken bei der Überwachung und die Auswirkungen eines Jahrhunderterdbebens auf das Wallis.

Pascal Stoebener, in Bondo GR sorgte vor Kurzem ein Murgang für Schlagzeilen, in Saas-Grund mussten Menschen wegen eines Eisabbruchs am Triftgletscher evakuiert werden. Von was geht für das Wallis im Moment eigentlich die grösste Gefahr aus, von Schnee und Eis oder von Steinen und Geröll?
Man muss unterscheiden zwischen Gefahr für das Leben von Menschen und Gefahr für die Infrastruktur. Was die Infrastruktur betrifft, so birgt der Rotten nach wie vor das grösste Schadenspotential. Das heisst Ereignisse im Zusammenhang mit dem Rotten können grosse finanzielle Schäden verursachen. Anders sieht es bei der Gefahr für Leib und Leben aus. Hier ist der Rotten nicht so gefährlich, da wir Hochwasser aufgrund der Prognosen kommen sehen und entsprechend evakuieren können. Ähnlich verhält es sich auch bei Lawinen. Auch hier spitzt sich eine Gefahrenlage normalerweise nicht innert Minuten zu, sodass man geeignete Massnahmen ergreifen kann, wie zum Beispiel Strassen sperren oder Evakuierungen durchführen. Problematischer sind dagegen Steinschläge und Murgänge, die sehr unmittelbar auftreten können, wie man ja in Bodo gesehen hat.

Wie versuchen Sie diese Unvorhersehbarkeit in den Griff zu bekommen?
In dem wir kritische Stellen ständig überwachen. Im Wallis werden daher sehr viele Gebiete überwacht.

Werden Sie aufgrund des Klimawandels künftig noch mehr Gebiete überwachen müssen?
Zahlenmässig noch mehr Gebiete zu überwachen ist nicht einfach, schliesslich ist es immer auch eine Frage der finanziellen Ressourcen. Allerdings kommt uns zugute, dass die technischen Möglichkeiten zur Überwachung immer besser werden, sodass wir immer grössere Gebiete beobachten können.

Was für neue Möglichkeiten haben Sie?
Ein neues Instrument ist das Scannen eines Gebiets mittels Laser. Dieses Verfahren ermöglicht die Überwachung sehr grosser Felsformationen mit nur einem Gerät. Früher mussten wir dagegen, um grosse Felsformationen im Auge zu behalten, viele Messstellen einrichten. Das ist sicher ein grosser Fortschritt. Auch beim Triftgletscher in Saas-Grund kommt eine relativ neue Technik zum Einsatz. Ein neuartiges Radarmessgerät erlaubt es, die Gletscherbewegungen millimetergenau zu verfolgen, obwohl die Messstation selbst über drei Kilometer vom Gletscher entfernt ist. Solche Messmethoden erleichtern unsere Arbeit natürlich. So können wir die neuralgischen Punkte, also bewohnte Gebiete, Kommunikationsverbindungen und Verkehrswege, relativ lückenlos überwachen.

Würden Sie sagen, dass alle gefährdeten Gebiete überwacht sind?
Dies zu behaupten, wäre vermessen, schliesslich reden wir über Naturgefahren. Ich würde sagen, dass wir 95 Prozent im Griff haben.

Muss sich die Bevölkerung im Wallis darauf einstellen, dass es in Zukunft vermehrt zu Naturereignissen kommt?
Ich denke nicht, dass es zahlenmässig mehr Ereignisse sein werden. Was aber der Fall ist, ist, dass in Zukunft andere Gebiete gefährlich werden, als die, die es bis jetzt waren. Das hängt damit zusammen, dass vor allem durch das Auftauen der Permafrostböden Gebiete instabil werden, die es bis jetzt nicht waren. Besonders stark wird sich dieses Phänomen auf das Mattertal auswirken. Durch das Auftauen der Böden gibt es zunehmend mehr loses Material, das bei starken Regenfällen oder durch die Schneeschmelze in Bewegung geraten kann. Das war früher anders. Gleichzeitig verschwinden andere Gefahren. Bei einigen Gletschern ist die Schmelze so weit fortgeschritten, dass von ihnen keine Gefahr mehr ausgeht. Man sieht also, es wird nicht mehr Ereignisse geben, aber an anderen Orten.

Welches ist Ihrer Ansicht nach das gefährdetste Gebiet im Wallis?
Im Mattertal ist das Risiko aufgrund des Auftauens der Permafrostböden und der steilen Hänge sicherlich sehr hoch. Im Saastal ist die Situation ähnlich, weshalb wir in diesen Tälern auch am meisten in Schutzvorrichtungen und Überwachung investieren.

Was heisst das für die Siedlungsgebiete?Müssen wir uns darauf einstellen, dass in Zukunft mehr Gebiete zur «roten» Zone erklärt werden?
Nein, das denke ich nicht. Vielleicht ist in den letzten Jahren der Eindruck entstanden, dass die «roten» Zonen zunehmen. Das ist aber nicht der Fall. Die Gefahrenkarten für Lawinen bestehen schon einige Zeit. Im Moment sind wir dabei, auch die Karten für Gefährdungen durch Steinschlag und Murgänge auszuarbeiten. Dadurch kommen natürlich «rote» Zonen hinzu. Diese sind aber schon gefährdet, durch die Karten werden sie nun sichtbar. Es werden also nicht mehr Gefahrenzonen, man macht sie nur «offiziell». Klar kann es in Zukunft zu Anpassungen kommen, ich denke aber nicht, dass grosse Flächen hinzukommen.

Das Wallis wird also nicht unbewohnbar?
Nein, sicher nicht. Wichtig ist aber, dass in Zukunft nicht mehr in gefährdeten Gebieten gebaut wird, auch wenn den Druck aus demografischen Gründen vielleicht hoch ist.

Durch die neuen Gefahrenkarten kommt es vor, dass Häuser «plötzlich» in der «roten» Zone liegen. Wie kommt das?
Früher hatte man keine Gefahrenkarten. Entsprechend wurde in gefährdeten Gebieten gebaut. Nun schildert man diese Zonen offiziell als gefährdet aus und so kann es vorkommen, dass Gebäude «plötzlich» in den «roten» Zonen liegen. Man muss leider sagen, dass in der Vergangenheit ziemliche Fehler gemacht wurden.

Das heisst, dass man in dem Teil von Saas-Grund, den man vor Kurzem evakuiert hat, eigentlich nie hätte bauen dürfen?
Das ist so. Allerdings stimmt es in dieser Konsequenz nur für das Gebiet, das in der Gefahrenzone für Lawinenabgänge liegt. Diese Gefahrenkarten müssen wir nun aber anpassen, da der Triftgletscher ja bekanntlich instabil ist.

Es kommen also gefährdete Gebiete dazu. Einige waren aber schon vorher gefährdet. Warum hat man dort trotzdem gebaut?
Das hat sicher mit der Regelmässigkeit zu tun, in der Naturereignisse auftreten. Unsere Gefahrenkarten sind für Wiederkehrperioden eines Ereignisses von 300 Jahren ausgelegt. Das heisst, muss man davon ausgehen, dass sich ein Ereignis innerhalb von 300 Jahren wiederholt, muss man von einem gefährdeten Gebiet ausgehen. 300 Jahre ist natürlich eine sehr lange Zeit, zu lange, als dass sich die Menschen zurückerinnern könnten. Wir haben festgestellt, dass Naturereignisse nach 30 Jahren anfangen, in Vergessenheit zu geraten. Nehmen wir also an, in Saas-Grund wäre der Triftgletscher vor 250 Jahren das letzte Mal abgebrochen, wer würde sich heute noch daran erinnern und wissen, dass man in dem Gebiet besser nicht bauen sollte? Hinzu kommt, dass Ereignisse, die für uns Fachleute relevant sind, von den Menschen gar nicht als solche wahrgenommen werden.

Wie meinen Sie das?
Bäume sind ein guter Indikator für das Auftreten von Naturereignissen. Ihr Wachstum und ihre Verletzungen verraten einiges darüber, was sich über einen langen Zeitraum in Sachen Naturgefahren ereignet hat. Wenn wir solche Untersuchungen durchführen und feststellen, dass es in den letzten Jahrzehnten zum Beispiel zehn Ereignisse gab, dann können sich die Menschen oft nur an ein paar davon erinnern. Aus diesem Grund wurden gewisse Gebiete von den Leuten in der Vergangenheit als sicher angesehen, obwohl sie es gar nicht sind.
Ein Ereignis, das schon lange her ist, das aber sicher wieder einmal auftreten wird, ist ein sogenanntes Jahrhunderterdbeben.

Haben Sie vor einem solchen Beben Angst?
Klar ist, wenn es zu einem Jahrhunderterdbeben kommt, werden die Schäden katastrophal sein. Man hat in den letzten Jahren viel für die Sicherheit der Gebäude bei einem Beben getan. So gesehen werden die direkten Schäden sicher da sein, sich aber in Grenzen halten. Was schwerer wiegen wird, sind die indirekten Schäden. Nehmen wir wieder das Mattertal. Gebiete, die unter normalen Umständen mehr oder weniger stabil sind, könnten bei einem starken Erdbeben in Bewegung geraten, instabile Zonen sowieso. Dies könnte dann zu zusätzlichen Schäden führen und dagegen kann man nicht viel unternehmen, da in solchen Momenten natürlich auch eine Evakuierung und dergleichen aufgrund des Zeitfaktors sehr schwierig ist. Ein starkes Erdbeben wird uns sicher vor gewaltige Herausforderungen stellen, schon allein weil Täler wie das Saas- oder Mattertal sicher für eine längere Zeit von der Aussenwelt abgeschnitten sein werden.

Müssen wir im Wallis unsere Haltung gegenüber Naturgefahren ändern? Nehmen wir die Sache auf die leichte Schulter?
Ich denke nicht, dass die einheimische Bevölkerung die Gefahr unterschätzt oder falsch damit umgeht. Anders sieht es bei Auswärtigen aus.

Wie meinen Sie das?
Die Einheimischen leben schon immer mit den Gefahren und zeigen daher auch eine gewisse Gelassenheit, wenn zum Beispiel eine Strasse für einen gewisse Zeit gesperrt werden muss. Auswärtige bringen da teilweise weniger Verständnis auf. Ein Beispiel. Die Verantwortlichen der Olympiakandidatur Sitten 2026 fragten mich, ob man im Goms gefahrlos nordische Wettkämpfe durchführen könne, was ich bejahte. Als ich ihnen dann aber erklärte, dass es sein könne, dass man die Kantonsstrasse vielleicht wegen Lawinengefahr für eine paar Tage sperren müsse, waren sie konsterniert. Diese Möglichkeit passte nicht in ihren Plan. Im modernen Leben ist kein Platz für Naturgefahren. Ich denke, dass es gut wäre, wenn die Gesellschaft hier wieder zu etwas mehr Gelassenheit finden würde.

Martin Meul

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Infos

Zur Person

Vorname Pascal
Name Stoebener
Geburtsdatum 23. März 1966
Familie getrennt, zwei Kinder
Beruf Forstingenieur ETH Zürich
Funktion Chef Naturgefahren Kanton Wallis
Hobbies Skifahren, Volleyball, Mountainbike

Nachgehakt

Einen Felssturz wie in Randa wird es sicher 
wieder geben.
Ja
Bei längeren Regenperioden bekomme ich 
ein mulmiges Gefühl.
Ja
Das Wallis ist nicht genügend auf ein starkes Erdbeben vorbereitet. Nein
Der Joker darf nur einmal gezogen werden.  

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