Ernen | Jetzt will er Wiedergutmachung

Als Verdingbub gedemütigt

Friedrich Dreier lebt heute in Ernen.
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Friedrich Dreier lebt heute in Ernen.
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Friedrich Dreier (60) war ein Verdingbub und wurde in seiner Kindheit geschlagen, gedemütigt und sexuell genötigt. Jetzt hat er ein Gesuch für einen Solidaritätsbeitrag eingereicht.

Das Leben meint es nicht gut mit Dreier. Als seine Mutter, die an Multipler Sklerose leidet, in ein Pflegeheim kommt, wird der fünfjährige Junge in ein Heim gesteckt. Hier muss er nicht nur hart anpacken und auf dem Feld und im Garten mithelfen, sondern muss auch einen eigentlichen Psychoterror über sich ergehen lassen.

Harte Arbeit, Schläge und Hunger

Weil Dreier Bettnässer ist, wird er von den anderen Jugendlichen gehänselt und von den Heimleitern drangsaliert. «Wenn ich ins Bett machte, musste ich anderntags mit den ‹verseichten› Leintüchern vor der Waschküche anstehen, bis sie endlich geöffnet wurde», erinnert er sich. Dann muss er die Leintücher und das Nachthemd auswaschen und wird anschliessend mit kaltem Wasser abgespritzt. «Zum Schluss kontrollierte ein Leiter, ob ich sauber war und hat mich dabei auch an meine Genitalien gefasst.» Auch Schläge stehen auf der Tagesordnung. Wer nicht spurt, bekommt die Haselnussgerte auf dem nackten Hintern zu spüren. Während den Ferien wird Dreier als Verdingbub auf verschiedene Bauernhöfe geschickt. Hier geht die Tortur weiter. Harte Arbeit, Schläge und Hunger gehören zum Alltag. Schliesslich kommt der 16-Jährige in eine Lehrlingsanstalt, wo er mit Drogen und Alkohol in Kontakt kommt. Nach einer Odyssee landet er schliesslich in Pratteln und wird als Lagerarbeiter bei Coop angestellt, wo er sich bis zum stellvertretenden Leiter der Produktionsabteilung aufarbeitet. Hier arbeitet er bis zu seiner vorzeitigen Pensionierung, bevor er in Ernen eine neue Heimat findet.

Gesuch um Solidaritätsbeitrag

Jetzt hat sich Dreier auf den Aufruf des Bundes gemeldet, wonach Verdingkindern ein Solidaritätsbeitrag zwischen 20 000 und 25 000 Franken zusteht. Obwohl er eigentlich kein Geld wollte, findet er es angemessen, dass sich der Bund mit der Vergangenheit der Verdingkinder auseinandersetzt. «Damit sich solche Vorkommnisse nicht wiederholen», sagt Dreier, der ein Buch über seine Leidensgeschichte veröffentlicht hat. Aufgrund seines Gesuchs hat er vom Amt für Opferhilfe Einsicht in seine Akten bekommen. «Das war sehr aufwühlend aber auch hilfreich, um meine Geschichte zu verarbeiten», erinnert er sich. Obwohl er den Solidaritätsbeitrag gut brauchen kann − «Ich lebe von der kleinen Rente meines früheren Arbeitgebers» − will er vom Geld auch einige Ortsvereine unterstützen. «Damit will ich vor allem Jugendliche unterstützen, damit sie im Dorf bleiben und nicht auf die schiefe Bahn geraten.»

Walter Bellwald

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