Region | Oberwallis/Palästina

Die andere Weihnachtsgeschichte

Die Oberwalliserin Nicole R.: «Auf nahezu jedem Hügel thront eine jüdische Siedlung.»
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Die Oberwalliserin Nicole R.: «Auf nahezu jedem Hügel thront eine jüdische Siedlung.»
Foto: zvg

Alltag in Palästina: Zwei Einheimische transportieren ihre Ware auf einem Esel.
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Alltag in Palästina: Zwei Einheimische transportieren ihre Ware auf einem Esel.
Foto: zvg

Quelle: RZ 2

Nicole R.* (23) arbeitet für eine Schweizer Organisation, welche Projekte in Palästina unterstützt. Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte aus dem Heiligen Land.

«Ich bin mit der neuen Welle der Gewalt angereist», sagt Nicole R., die seit dem 1. Oktober in Palästina ist. Genau seit diesem Tag befindet sich Palästina und Israel wieder im Ausnahmezustand. 141 Todesopfer und mehr als 14 000 Verletzte hat der Konflikt seither gefordert. Die meisten auf palästinensischer Seite. «Die Situation ist schlimm», sagt Nicole R. «Am schlimmsten für den Tourismus. Die Strassen in Jerusalem und Betlehem sind leer. Die Weihnachtstouristen bleiben aus und auf den Strassen bin ich oft die einzige Ausländerin», stellt sie ernüchtert fest.

Tiefe Verbundenheit gespürt

Vor zwei Jahren wird Nicole R. auf den Israel/Palästina-Konflikt aufmerksam. «Ich erschrak, wie wenig ich darüber wusste», sagt sie heute. Mit Büchern und Filmen versucht sie, sich ein besseres Bild davon zu machen. «Irgendetwas an diesem Konflikt hat mich tief berührt. Vor allem das Schicksal der Palästinenser hat mich unglaublich aufgewühlt», sagt Nicole R., die in der Schweiz das Studium als Umweltingenieur abgeschlossen hat. Sie ändert ihre Pläne, nach dem Studium ihre Arbeit aufzunehmen und entschliesst sich stattdessen, nach Palästina zu gehen und sich vor Ort nützlich zu machen. Im Auftrag der Schweizer Organisation Horyzon ist sie als Volontärin tätig und hauptsächlich für Übersetzungen und das Verfassen von Berichten zuständig.

Emotionale Menschen

«Meine eigentliche Arbeit fängt aber erst nach den Bürozeiten an», sagt Nicole R. Dann nämlich, wenn sie sich Zeit nimmt für die Menschen im Krisengebiet. «Vielen von ihnen fällt es schwer, über die Geschehnisse zu reden. Dann sitzen wir ganz einfach da, schauen die Nachrichten im Fernsehen oder trinken schweigend unseren Kaffee.» Andere wiederum seien lautstark und redefreudig. «Es ist für mich ein grosser Genuss, den lebhaften Gesprächen in Arabisch zu lauschen und das emotionale Sprechen zu beobachten. Ich staune jedes Mal aufs Neue, wie viel Leben, Leidenschaft und Freude in ihrer Haltung, ihren Gesprächen und ihrem Umgang mit anderen stecken», stellt Nicole R. fest. Nach diesen Besuchen trifft sie sich mit Freunden und Bekannten im Ausgang. «Wir treffen uns in einem Auto, da es fast keine Bars gibt, hören Musik und plaudern zusammen. Viele meiner muslimischen Freunde trinken auch Alkohol. Es ist für sie die einzige Abwechslung in diesem andauernden Konflikt.»

Zwischen den Fronten

Nicht immer kann Nicole R. vom Alltag abschalten. Zu präsent ist der Konflikt zwischen Israeli und Palästinensern. «Jeden Abend kommt es zu sogenannten ‹Clashes› zwischen Jugendlichen und Soldaten in der Nähe der Checkpoints. Während die Jugendlichen mit Steinen werfen, antworten die Soldaten mit Tränengas, Gummischrot und mit Schüssen.» Besonders schlimm seien die Auseinandersetzungen am Dienstag- und Freitagnachmittag. «Der Freitag ist für die Moslems ein Feiertag und der Dienstag wurde zum Tag des Zorns ernannt. An diesen beiden Tagen kommt es immer zu vielen Auseinandersetzungen.» Der Tod ist allgegenwärtig in Palästina. «Mal sind es vier Tote an einem Tag, mal vier in einer Woche», sagt Nicole R. Die Gewalt, Aggression, Angst und Unsicherheit seien mehr als nur spürbar. «Man sieht sie, hört und riecht sie täglich», hält Nicole R. fest. Auch sie selber kam schon in brenzlige Situationen. «Einmal bin ich zwischen die Fronten der Jugendlichen und Soldaten geraten und ein andermal wurde unser Bus von israelischen Siedlern mit Steinen attackiert. Beide Male bin ich aber mit dem Schrecken davongekommen.»

Weihnachten in Jordanien

Wenn Nicole R. über Palästina spricht, dann merkt man ihre tiefe Verbundenheit mit Land und Leuten. «Die Palästinenser sind die liebenswürdigsten und herzlichsten Menschen, die mir bisher begegnet sind. Und sie sind vor allem eins; stark, stolz und haben einen grossen Überlebenswillen.» Palästina sei ein einziges soziales Konstrukt. «Ich habe hier noch nie einen einzigen Obdachlosen gesehen, weil sich jeder um jeden kümmert», hält sie fest. Auch Nicole R. will sich um die Menschen in Palästina kümmern, «auch wenn ich an der Gesamtsituation wenig ändern kann». Die Weihnachtsfeiertage verbringt sie in Jordanien, bevor sie Ende Dezember ein neues Touristenvisum beantragen will. «Mein Wunsch wäre es, noch drei Monate hier zu bleiben und mich nützlich zu machen.» Wird sie nach dieser Zeit wieder nach Palästina zurückkehren? «Auf alle Fälle», sagt Nicole R. «Das Land und diese Menschen haben mir mein Herz gestohlen. Deswegen werde ich Palästina wieder besuchen.»

Walter Bellwald

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Kommentare

  • Frederik Stucki - 13

    Der Artikel wirft ein Schlaglicht auf einen wichtigen Schauplatz der Zeitgeschichte, dem man sich auch als Europäer nicht einfach entziehen darf. Es ist deshalb ebenso begrüssens- wie bewundernswert, dass sich Nicole R. auf den Weg in die Region gemacht hat, um sich dort ein eigenes - statt nur das von den Medien mehr oder öfters auch weniger kompetent vermittelte - Bild zu machen. Wer aber nur auf einer Seite des Tales hockend und nur an Informationen der einen Seite interessiert auf die "jüdischen" (sic!) Siedlungen am anderen Hang glotzt, hat notwendigerweise kein Gesamtbild, keinen Überblick über die von ihr behauptete "Gesamtsituation". Ich empfehle Frau R., während ihres Nahost-Aufenthalts unbedingt noch ein, zwei Wochen auf der vermeintlich "anderen Seite" einzuplanen: Einen Tag am Checkpoint (je einen Halbtag auf jeder Seite; evtl. schön ausgewogen für beide Seiten Steine sammeln, damit sich niemand mit anderen Mitteln wehren und so für die Sicherheit aller normalen beiderseits Durchreisenden sorgen muss); einen Tag in einer "jüdischen Siedlung"; eineinhalb Tage inkl. Übernachtung in einem Dorf im Raketenbeschussbereich aus Gaza; eineinhalb Tage in der Notaufnahme im Spital von Ashkalim, wo Attentäter und Opfer ohne Unterschied eingeliefert und versorgt werden (kann gerne Kontakt vermitteln); ein, zwei Tage bei arabisch-muslimischen israelischen Staatsbürgern, die seit Jahrzehnten in der einzigen Demokratie des Nahen Ostens einen Lebensenwurf in Sicherheit, Wohlstand und ohne Sorge um die Kinder aufgebaut haben; einen Tag in Tel Aviv, wo die Menschen egal ob Frau oder Mann einfach frei leben und sich entfalten dürfen.
    Dann wäre Frau R. auch noch zu empfehlen, sich wissenschaftlich-statistisch um eine Aufarbeitung der paläastinensischen Opferzahlen der letzten Jahrzehnte und insbesondere der letzten fünf, sechs Jahre zu widmen, um aufzuzeigen, welcher Prozentsatz an palästinensischen Zivilopfern der Herrschafts- und Terrorwillkür der machistischen und korrupten Hamas, also quasi vermeintlich "friendly fire" geschuldet ist. Frau R. würde staunen und wäre hoffentlich "erschrocken" und bereit für ein zweites Interview (falls sie dafür nicht bereits zu infiltriert sein sollte).
    Dem Journalisten empfehle ich (gerade bei einer Wochenzeitung ohne täglichen Redaktionsschluss-Druck), nicht einfach als lebender Mikrophonhalter das zu verlautbaren, was ihm in den Füller diktiert wird, sondern auch die eine oder andere (Gegen-)Recherche in einen Artikel einfliessen zu lassen. Stellen wie "...hat der Konflikt seither gefordert. Die meisten auf palästinensischer Seite." ... sind schlicht unjournalistisches PR-Gewäsch, wenn nicht gleichzeitig Quellen und Belege klar und nachprüfbar benannt werden. Wenn es nur um eine "Momentaufnahme", eine "témoignage" geht, haben solche schwammige Behauptungen im Artikel nichts zu suchen, also bitte keine Ausreden!
    Kurz und gut: RZ-Schuster, bleib bei deinen Leisten. Vermeintlich populäre (und dann gern: populistische) Themen zu plakatieren und gleichzeitig journalistische Ansprüche sorglos zu Lasten der wohlinformierten Meinungsbildung des Lesers zu ghüderen, ist auch einer Oberwalliser Wochenzeitung einfach unwürdig. Dann lieber den Ball flach halten, und dafür kompetent, gekonnt und überraschend aus dem Oberwallis berichten (der einzige Grund, wieso ich die RZ überhaupt aufschlage).

    • Nicole - 11

      Lieber Frederik Stucki. Mit grösstem Interesse habe ich ihre Ansicht und Meinung einerseits zum Artikel, aber auch zum Thema allgemein, gelesen. Vielem kann ich nur zustimmen, einige Punkte aber werfen Fragen auf oder sind für mich nicht ganz nachvollziehbar - erlauben Sie mir mit Ihnen in Kontakt zu treten? Es wäre für mich äusserst spannend, einige Punkte mit Ihnen etwas zu vertiefen oder auf die angebotenen Kontakte zurückzukommen.

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