Prozess | Anwalt der Opferfamilie fordert bedingte Gefängnisstrafe für Zermatter Elektrotaxi-Chauffeur
«Sehen Sie in den Gerichtsakten irgendwo aufrichtige Reue?»
VISP | Vor dem Bezirksgericht Visp musste sich am Montag ein Fahrer eines Elektrotaxis verantworten, der im April 2016 in Zermatt beim Rückwärtsfahren ein 19 Monate altes Kind überfahren hatte. Der Anwalt der Opferfamilie fordert eine Gefängnisstrafe von 30 Tagen, die Staatsanwaltschaft eine Geldstrafe von 120 Tagessätzen.
Der Gang vors Bezirksgericht Visp am Montagmorgen war sowohl für die Opferfamilie als auch für den der fahrlässigen Tötung angeklagten Chauffeur kein leichter. Das war spätestens bei der Befragung des 27-jährigen Angeklagten aus Portugal im Gerichtssaal spürbar. Als ihn Richter Rochus Jossen nochmals schildern lassen wollte, wie er den tödlichen Unfall in Erinnerung hatte, lehnte er dies mit Tränen in den Augen ab. Zu schwer leide er noch heute unter den tragischen Ereignissen.
Sechs Monate arbeitsunfähig
Verständlich vor dem Hintergrund, dass der junge Mann nach dem Unfall während sechs Monaten arbeitsunfähig war. Danach habe er zweimal Anlauf genommen, seine Tätigkeit als Elektrotaxi-Chauffeur wiederaufzunehmen, gab der Angeklagte bei der Befragung zu Protokoll. Beide Versuche seien jedoch gescheitert. Dem Goodwill seines Arbeitgebers sei es zu verdanken, dass er danach wieder eine Stelle als Hilfsmechaniker in einer Werkstatt in Zermatt gefunden habe. Aber nach wie vor sei er in psychologischer Behandlung, um den Unfall zu verarbeiten.
Staatsanwalt Andreas Seitz, der im Fall Anklage wegen fahrlässiger Tötung und einfacher Verletzung von Verkehrsregeln erhoben hatte, hielt eingangs seines Plädoyers fest, dass der tödliche Unfall für beide Seiten eine schwere Last darstelle. Der Fall hätte auch im abgekürzten Verfahren mit dem Erlass eines Strafbefehls beurteilt werden können. Seine Erfahrung aus ähnlich gelagerten Fällen aber zeige, dass bei den beteiligten Parteien «die Akzeptanz eines Richterspruchs das grössere Gewicht habe als ein Strafbefehl eines Staatsanwalts». Strafbefehle zu fahrlässiger Tötung würden in aller Regel vor Gerichten angefochten.
Staatsanwalt fordert Geldstrafe
Bei der Begründung des Strafmasses wies Staatsanwalt Seitz nochmals darauf hin, dass der Tod des Kindes hätte vermieden werden können, wenn der Elektrotaxi-Chauffeur bei seiner Rückwärtsfahrt zur Abholadresse eine Hilfsperson beigezogen hätte, wie das seine Pflicht bei den nachweislich schlechten Sichtverhältnissen gewesen wäre. Das aber habe er wohl unterlassen, um Zeit zu sparen und auch aus Bequemlichkeit. Strafmildernd hingegen sei der Umstand, dass sich der Angeklagte bei den Ermittlungen zum Unfallhergang stets kooperativ gezeigt habe und auch zur Tat stehe. Dasselbe gelte für den Umstand, dass der Angeklagte bis heute gesundheitlich unter dem Unfall leide.
In der Festlegung der Strafanträge forderte Seitz, dass der Mann wegen fahrlässiger Tötung und einfacher Verletzung von Verkehrsregeln zu verurteilen und mit einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen mit Probezeit zu bestrafen sei. Von einer Landesverweisung sei abzusehen, da das Delikt nicht im Katalog jener Straftatbestände aufgeführt sei, welche mit Landesverweis abgestraft würden. Der Angeklagte müsse ferner die Verfahrenskosten übernehmen und eine angemessene Parteienentschädigung entrichten.
Wenden wäre möglich gewesen
Rechtsanwalt Daniel Bellwald vertrat vor Gericht die Interessen der Opferfamilie, die zum Prozess von Grossbritannien angereist war. In seinen Erwägungen zum Strafmass verwies er auf die Tatsache, dass der Taxichauffeur beinahe 200 Meter rückwärts zur Abholadresse zurückgelegt habe. Das sei ganz klar verboten. Komme hinzu, dass der Mann sein Fahrzeug durchaus auf dem Wendeplatz hätte drehen können, wie eine Ortsschau ergeben habe. Die Nachlässigkeit, dass er sein zwei Tonnen schweres Taxi ohne Rückfahrkamera und Sensoren hochgefahren habe, ohne eine Hilfsperson beizuziehen, wiege schwer. «Zumal der Fahrer eines Panzers vermutlich bessere Sicht hat, als es im Unfalltaxi der Fall gewesen war.» Bellwald störte sich auch an der Tatsache, dass sich der Angeklagte bis zum Prozess nie persönlich an die Opferfamilie gewandt hatte, sondern lediglich über seinen Arbeitgeber den Kontakt suchte.
Er ging in seinem Strafantrag weiter als die Staatsanwaltschaft und forderte eine bedingte Gefängnisstrafe von 30 Tagen sowie eine Busse von 1000 Franken. Auf der Formulierung von Zivilforderungen verzichtete er, will aber im Gerichtsurteil festgehalten haben, dass für Zivilforderungen auf den Zivilweg verwiesen werde.
Verteidiger Marc Truffer bestritt den Vorwurf der fahrlässigen Tötung nicht, dafür sei sein Mandant auch zu verurteilen. Der Angeklagte leide aber schwer unter der Tatsache, dass er den Tod des Kindes verursacht habe, das werde ihn wohl sein Leben lang nicht mehr loslassen. Von einer Strafe solle das Gericht deshalb absehen, zumal sein Mandant nicht vorbestraft sei. Er habe sich bei den Ermittlungen kooperativ verhalten und reuig gezeigt. Überdies sei seine Frau schwanger, was bei der Festlegung von allfälligen Bussen und Beteiligungen an Verfahrenskosten zu berücksichtigen sei, weil die junge Familie zukünftig mehr Geld für den Unterhalt benötige.
Anwalt der Opferfamilie reagiert heftig
Die Darlegungen der Verteidigung provozierten beim Anwalt der Opferfamilie eine heftige Reaktion. «Ich spreche dem Angeklagten eine gewisse Betroffenheit nicht ab. Das wäre auch vermessen, denn er hat ein Kleinkind getötet, und wenn er sich nun wieder ganz normal den alltäglichen Facetten des Lebens hingeben würde, wäre das ganz schlimm», so Bellwald. Aber die Verteidigung behaupte, er habe aufrichtige Reue gezeigt. «Wo ist diese aufrichtige Reue?», fragte er Richter Jossen. «Sehen Sie in den Gerichtsakten irgendwo aufrichtige Reue? Hat er die Opferfamilie nach dem Unfall jemals kontaktiert und sich entschuldigt? Nein.» Es sei ein reines Lippenbekenntnis, im Gerichtssaal Betroffenheit kundzutun und sich als Opfer zu präsentieren. Dem widerspreche er vehement, hier habe eine Familie eine Tochter verloren, was durch die Nachlässigkeit eines Profichauffeurs verursacht wurde. Und der Profichauffeur dränge sich nun in die Rolle des Opfers. «Wenn er Verantwortung übernehmen will, muss er das auch machen und nicht durch seinen Anwalt kurz vor Prozess eine Bestätigung beim Spitalzentrum einholen lassen, dass er in psychologischer Betreuung sei.» Aber das gehöre wohl zu einer guten Verteidigungsstrategie.
Das Schlusswort gehörte wie üblich dem Angeklagten. Er entschuldigte sich bei der Opferfamilie für seine Tat, indem er ein handschriftliches Entschuldigungsschreiben verlas, das er der Opferfamilie später aushändigte. Darin verwies er auch darauf, wie sehr er unter dem von ihm verschuldeten Tod des Mädchens leide. Eine Tatsache, unter der er wie auch die Opferfamilie ein Leben lang zu leiden hätten.
Das Prozessurteil wird Ende Oktober erwartet.
Norbert Zengaffinen
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