Politik | 1815.ch berichtet über die eidgenössische Abstimmung
Stimmvolk hat Qual der Wahl
Gleich über vier nationale Abstimmungsvorlagen wird am Sonntag entschieden. Neben der im Vorfeld emotional diskutierten Durchsetzungsinitiative befindet das Stimmvolk über eine zweite Strassenröhre am Gotthard, ein Verbot von spekulativen Geschäften mit Nahrungsmitteln und die Abschaffung der sogenannten Heiratsstrafe. 1815.ch berichtet am Sonntag laufend über die Ergebnisse.
Laut der zweiten SRG-Trendumfrage zeichnet sich bei der aktuellen Abstimmung vom Wochenende eine überdurchschnittliche Stimmbeteilung ab. Gegenüber der ersten Umfrage im Januar, als noch 48 Prozent abstimmen wollten, waren es bei der zweiten im Februar 55 Prozent. Wäre demnach am 9. Februar gestimmt worden, hätte eine Mehrheit für eine Zweite Gotthardröhre gestimmt. Knapp mehrheitlich wäre die Zustimmung zur Initiative gegen die Heiratsstrafe gewesen. Fast gleich stark wären beide Seiten bei der Durchsetzungsinitiative ausgefallen. Abgelehnt worden wäre hingegen die Spekulationsstopp-Initiative. 1815.ch hat die wichtigsten Aspekte der vier Abstimmungsvorlagen nochmals für Sie zusammengestellt.
1. Ein zweiter Strassentunnel am Gotthard?
Nachdem gegen die Änderung des Bundesgesetzes über den Strassentransitverkehr im Alpengebiet vom 26. September 2014 das Referendum ergriffen wurde, entscheidet am Wochenende das Stimmvolk über die Vorlage. Diese soll den Bau einer zweiten Röhre mit anschliessender Sanierung des bestehenden Tunnels ermöglichen. Damit wäre während der Sanierung die Strassenverbindung durch den Gotthard weiterhin verfügbar. Im Gesetz soll gleichzeitig verankert werden, dass nach der Sanierung jeweils nur eine Fahrspur pro Tunnel für den Verkehr offen steht.
Bundesrat und Parlament empfehlen, der Gesetzesänderung zuzustimmen. Im Nationalrat wurde die Vorlage mit 120 zu 76 Stimmen bei zwei Enthaltungen angenommen, im Ständerat mit 28 zu 17 ohne Enthaltungen. Die Gegner sind indes überzeugt, dass eine zweite Röhre die Zahl der Lastwagen und dadurch der Ausstoss von Schadstoffen, der Lärm und die Unfälle verdoppelt werden. Zudem heben sie hervor, dass die zweite Röhren die Verlagerung des Transitgüterverkehrs auf die Schiene untergräbt – man will deshalb auf eine provisorische Verladelösung am Gotthard setzen. Auch im Wallis wird bei einer zweiten Röhre von den Gegnern mehr Schwerverkehr am Simplonpass befürchtet.
2. Das Ende der Heiratsstrafe?
Die CVP-Initiative «Für Ehe und Familie - gegen die Heiratsstrafe» fordert, dass die Ehe gegenüber anderen Lebensformen nicht benachteiligt wird, insbesondere nicht bei den Steuern und den Sozialversicherungen. Sie soll die auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft von Mann und Frau sein, wobei das Ehepaar in steuerlicher Hinsicht eine Wirtschaftsgemeinschaft bildet. Es ist laut den Initianten ungerecht, dass verheiratete Paare und eingetragene Partnerschaften gegenüber Konkubinatspaaren benachteiligt werden. Bei gleichen Einkommens- und Vermögensverhältnissen würden Ehepaare mehr direkte Bundessteuern zahlen und tiefere AHV-Renten erhalten.
Demgegenüber sehen der Bundesrat und das Parlament insgesamt keine Benachteiligung von Ehepaaren. Zwar stimmte der Bundesrat der Initiative im Gegensatz zum Parlament ursprünglich zu. Da gemäss dem Bundesgesetz über die politischen Rechte jedoch keine abweichende Haltung des Bundesrats vorgesehen ist, lehnen sowohl der Bundesrat wie auch das Parlament die Initiative ab. Im Parlament wurde insbesondere die enge Definition der Ehe und der Umstand, dass später ein Wechsel zur getrennten Besteuerung von Ehemann und Ehefrau ohne erneute Verfassungsänderung ausgeschlossen wäre, kritisiert. Insgesamt seien Ehepaare zudem bereits heute etwa bei den Sozialversicherungen besser gestellt.
3. Keine spekulativen Geschäfte mit Nahrungsmitteln mehr?
Mit der Volksinitiative «Keine Spekulation mit Nahrungsmitteln!», die am Wochenende zur Abstimmung steht, wollen die Initianten spekulative Finanzgeschäfte in der Schweiz verbieten, wenn sie sich auf Agrarrohstoffe oder Nahrungsmittel beziehen. Nach ihrer Ansicht führen solche Geschäfte mit diesen Produkten zu starken Schwankungen der Nahrungsmittelpreise und damit letztendlich zu Armut und Hunger. Eine Studie der ETH Zürich schätze den Einfluss auf die Preise auf «60 bis 70 Prozent», führen sie an. Der Bund solle sich zudem auf internationaler Ebene dafür einsetzen, dass Geschäfte mit Nahrungsmitteln bekämpft werden.
Bundesrat und Parlament lehnen die Juso-Initiative demgegenüber ab. Sie erachten ein Verbot spekulativer Finanzgeschäfte im Bereich Agrarrohstoffe als ungeeignet zur Bekämpfung von Armut und Hunger. Ein nur in der Schweiz gültiges Verbot hätte, so sind sie der Ansicht, keinen Einfluss auf das Geschehen auf den Weltmärkten. Die Schweiz verfüge zudem über keinen Handelsplatz für solche Finanzinstrumente, und betroffene Unternehmen können das Verbot leicht umgehen. Trotzdem müsste eine aufwendige Kontrollbürokratie aufgebaut werden. Sie befürchten dadurch eine Schwächung des Wirtschaftsstandorts Schweiz.
4. Verschärfte Ausschaffung kriminineller Ausländer?
Die SVP-Volksinitiative «Zur Durchsetzung der Ausschaffung krimineller Ausländer (Durchsetzungsinitiative)» verlangt, dass nach der «Ausschaffungsinitiative» im Jahr 2010 nochmals über die Ausschaffung krimineller Ausländer abgestimmt wird. Konkret fordern die Initianten, dass Ausländerinnen und Ausländer, die wegen Straftaten unterschiedlicher Schwere verurteilt werden, ausgeschafft werden sollen, und zwar unabhängig der Strafhöhe. Weiter soll die Ausschaffung nur mehr vorübergehend aufgeschoben werden können, wenn Personen in einen Staat ausgeschafft werden müssen, in dem sie verfolgt werden oder ihnen Folter droht.
Bundesrat und Parlament lehnen die Durchsetzungsinitiative ab. Die Initiative breche mit Grundregeln der Demokratie. Sie umgehe etwa das Parlament, indem sie detaillierte Bestimmungen über die Ausschaffung direkt in die Verfassung schreiben wolle. Zudem würden die Befugnisse der Gerichte massiv eingeschränkt. Bei einer Annahme der Initiative könnten, so Bundesrat und Parlament, die Gerichte nicht mehr auf Besonderheiten eines Falls und sogenannte Härtefälle eingehen. Erwähnt wird weiter, dass das Parlament die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative inzwischen beschlossen und die Gesetze verschärft hat, ohne dass dagegen das Referendum ergriffen worden ist.
pmo
Artikel
Kommentare
Klara Zenruffinen - ↑20↓4
Viele Wählerinnen und Wähler sind leider von der Komplexität der Materie überfordert und lassen sich von der allgegenwärtigen und mit Millionen geförderten Schwarz-Weiss-Malerei der Populisten täuschen.
antworten
omo - ↑3↓22
die spannung steigt! ich hoffe bei der di auf ein JA!
antworten
Britt - ↑6↓19
Natürlich möchte man kriminelle Ausländer weiter versorgen, auch wenn die viel Steuergeld kosten, kann nicht sein. Das hat nur wegen der EU zu tun, darum stimme ich klar JA!
antworten
Outsider - ↑24↓2
Unsere politische Parteien und diverse andere Interessengruppen strotzen vor Aktionismus und strapazieren dabei die Demokratie und die Wählerschaft ganz gehörig. Wann wird das erste Wähler-Burn-Out diagnostiziert? Schon das Einlesen in die Initiativen-Materie erfordert viel Zeit und politisches Verständnis; dabei ist für die meisten Wähler/innen schon der Begriff "Gewaltentrennung" unklar; dazu wird man durch die unzähligen, vielfach nicht objektiven Leserbriefe hin- und hergerissen, bis man schliesslich entnervt und überfordert leer einwirft oder aus einer momentanen Stimmung ein Ja oder ein Nein einlegt. Weniger Initiativen wären mehr. Parteien und andere Gruppierungen sollten sich das bitte hinter die Ohren schreiben, bevor "Politikverdrossenheit" erneut Unwort des Jahres wird... Bis jetzt war ich politisch sehr interessiert, aber langsam geht mir echt die Wähler-Luft aus......
antworten
Klaus Hensel - ↑3↓2
Sie haben den Kern mitten ins Mark getroffen.
Und Sie sind, wie die niedrigen und permanent sinkenden Wahl- und Abstimmungsbeteiligungen zeigen, nicht der Einzige, der so fühlt.
Von eben dieser Politikverdrossenheit aber profitiert die SVP, die bei jedem Abstimmungstermin dem Volk etwas unterbreitet, was emotional anspricht, sich einfach, simpel und logisch nachvollziehbar anhört, in Wahrheit aber einen Atombombeneinschlag in das komplexe System der modernen Demokratie darstellt, was der durchschnittliche SVP-Ankreuzer weder versteht, noch sehen oder verstehen will.
Denn Sie können mit drei bis fünf Worten einen Seich auf ein Plakat schreiben, den viele sofort glauben, brauchen aber mehrere Seiten Text zur Widerlegung und Erklärung - was den durchschnitlichen SVP-Ankreuzer in seiner Lesefähigkeit gnadenlos überfordert und damnach von ihm nicht gelesen wird.
Die SVP will gar nicht regieren (zumindest derzeit noch nicht), sondern diesen Staat und seine Demokratie zunächst erst einmal systematisch zermürben und zerrütten, indem sie die Regierung vor sich hertreibt (warum lässt die das mit sich machen?), das Volk emotionalisiert und massivst polarisiert, und die leicht zu Verführenden immer zur Urne kriegt, während die anderen immer resignierter und kampfunlustiger werden.
Denn wenn die ernsthaft regieren wollten, bräuchten die keine Unruhe stiftende und Politikverdrossenheit vergrössernde Volkabstimmung nach der nächsten,
sondern nur eine einzige:
Aufhebung der Konkordanz.
Nach der nächsten Wahl würden sie dann nämlich die Mehrheit im Parlament und in der Regierung stellen.
Warum machen die das nicht einfach?
Weil sie nicht regiern wollen, weil sie nicht regieren können.
Das Land ist derzeitg noch zu stark, als dass es sich eine Truppe Milliardäre, Demagogen, Maulaffen und Pappnasen an die Regierung wählt.
So sieht das aus!
Und weil Leute wie Sie dann irgendwann der Urne fernbleiben, zermürbt von viel zu vielen und viel zu emotional geführten Abstimmungskämpfen (die Schweiz befindet sich dank der SVP seit Jahren quasi in einem zermürbenden Dauerwahlkampf und kommt einfach nicht mehr zu einer Ruhe, wo sachliche Debatten, einer der fundamentalen Grundkerne von Demokratie, möglich sind), räumen dann vernünftige Leute wie Sie, die sich die Initiativen auch mal wirklich durchlesen, sich mit den Hintergründen, Auswirkungen und Konsequenzen auseinandersetzen, um dann als echter Demokrat selbst eine eigene Meinung zu fassen, anstatt sich als Schafe nur durch dumm-dumpfe Plakatpamphlete und debile Schlachtrufe zum Stimmvieh deklassieren zu lassen, das Feld und überlassen die Schweiz und ihre Demokratie den radikalen Demagogen, die die Menschen mit ihren scheinbar simplen Lösungen dazu verführen, sich selbst die eigenen Rechte zu beschneiden, und die Reichen und Mächtigen noch reicher und mächtiger werden zu lassen.
Das geht langfristig nicht gut für die Mehrheit.
Ich sehe für die Schweiz nur zwei Lösungen, wenn sie dauerhaft ihren Volksfrieden und vor allem ihre Demokratie bewahren will:
1.) Es werden überhaupt nur noch Initiativen dem Souverän zur Abstimmung vorgelegt, die mit keinem bereits gültigen Gesetz kollidieren.
Wenn, dann muss zuerst dieses geändert werden.
Denn seit Jahren ist nämlich zu beobachten, dass die SVP immer wieder Volksinitiativen lanciert, die geltendem und oft sogar höherem Recht widersprechen, ergo nicht umgesetzt werden können/dürfen, und diese Demagogen dann nur wieder einen Grund haben lautstark rumzupoltern:
"Da seht! Die Regierung setzt den Volkswillen nicht um!"
Die könnten auch eine Volksinitiative lancieren, "ab morgen geht die Sonne im Westen auf (und ganz kleingedruckt, nebenbei, natürlich nicht auf einem Plakat stehend, versteht sich, soll Familie Blocher steuerbefreit werden)".
Aber darauf würden wahrscheinlich nur die allerhärtesten SVP-Ankreuzer reinfallen.
2.) Oder, Volksabstimmung, ein uraltes Relikt aus einfacheren Zeiten, werden sehr erschwert, wie es aus gutem Grund in anderen Demokratien der Fall ist; also de facto abgeschafft.
Denn die traurige Wahrheit ist:
Das Kernproblem der Demokratie ist, dass die Mehrheit dumm und denkfaul ist, sich aber leicht verführen lässt, und demnach vor sich selbst geschützt werden muss.
Das ist intelligenten und aufgeklärten Demokraten lange bewusst, will der dumme bonierte und sich selbst für superschlau haltende SVP-Hinterherläufer nicht glauben und auch nicht wahrhaben wollen, ist aber (leider) faktisch die Wahrheit.
Paart sich dieses dann mit einer Politikverdrossenheit, kommt es dann zu dem, was in der Schweiz zu beobachten ist:
Eine kleine, radikale Minderheit wird zur bestimmenden Macht, weil sich alle anderen schon zurückgezogen haben.