Ernen/Thun | Friedrich Dreier war ein Verdingkind

Hungrig, ungeliebt und misshandelt

Nachdenklich: Als Jugendlicher ging Friedrich Dreier durch die Hölle.
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Nachdenklich: Als Jugendlicher ging Friedrich Dreier durch die Hölle.
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«Ich kann nicht vergessen», sagt Friedrich Dreier.
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«Ich kann nicht vergessen», sagt Friedrich Dreier.
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Friedrich Dreier (59) wurde in seiner Kindheit im Heim und als Verdingbub geschlagen, gedemütigt und sexuell genötigt. Jetzt hat er seine schrecklichen Erlebnisse in einem Buch niedergeschrieben.

«Ich weiss gar nicht, wo ich anfangen soll», sagt Friedrich Dreier bei unserer Begegnung. Der Mann wirkt schüchtern und zurückhaltend. Erst nach anfänglichem Zögern beginnt er, seine Leidensgeschichte zu erzählen. «Es war schlimm», sagt er und blickt nachdenklich in die Ferne.

Sexuelle Übergriffe

Das Leben meint es nicht gut mit dem kleinen Friedrich. Zusammen mit seiner Mutter, die an Multipler Sklerose leidet, wächst er in einer kleinen Einzimmerwohnung in Thun auf. Als die Mutter in ein Pflegeheim kommt, wird Friedrich mit nur fünf Jahren in ein Heim für Jugend­liche gesteckt. Hier lernt der kleine Junge schnell die Gesetze der Heimanstalt kennen. «Wir mussten auf dem Feld und im Garten hart anpacken, hatten fast immer zu wenig zu essen und mussten uns in der Gruppe beweisen», schaut Dreier zurück. Das Schlimmste: Friedrich ist Bettnässer und wird deswegen von den anderen Jugendlichen gehänselt. Auch die Heimleiter nehmen keine Rücksicht auf die Psyche des Jungen. «Wenn ich ins Bett machte, musste ich anderntags mit den ‹verseichten› Leintüchern und in der Unterwäsche vor der Waschküche anstehen, bis sie endlich geöffnet wurde.» Dann muss Friedrich die Leintücher und das Nachthemd in kaltem Wasser auswaschen und wird anschliessend mit einem Schlauch abgespritzt. «Zum Schluss kontrollierte ein Heimleiter, ob ich sauber genug war, und er hat mich mehrmals an den Genitalien berührt.» Auch Schläge stehen auf der Tagesordnung. Wer nicht spurt, bekommt die Haselnussgerte auf dem nackten Hintern zu spüren. «Wir mussten niederknien und dabei unseren Kopf zwischen die Beine des Leiters halten. Dabei spürten wir seine Erregung. Ekelhaft», beschreibt Dreier den Horror.

Trauriges Weihnachten

Obwohl sich der kräftige Junge nach und nach seinen Platz in der Gruppe erkämpfen kann, holt ihn das Schicksal abermals ein. «Während die anderen Jungen in den Ferien nach Hause durften, wurde ich als Verdingbub auf verschiedene Bauernhöfe geschickt.» Die Folge: harte Arbeit, Schläge, Hunger und Tränen. «Einmal musste ich an Weihnachten mit einem Pferd Holz aus dem nahe gelegenen Wald schleppen. Es war bitterkalt und nass», erinnert sich Dreier. Um seinen Hunger wenigstens halbwegs zu stillen, streckt er sein Mittagessen – «eine wässrige, geschmacklose Suppe» – mit dem Hafer, der für das Pferd bestimmt ist. «Als ich mit zunehmender Dämmerung endlich wieder am Hof war, habe ich zuerst das Pferd versorgt», erinnert er sich. Todmüde und hungrig schleicht sich Dreier ins Haus. Doch statt zu essen gibts verbale Prügel. «Mit der Begründung, ich sei zu spät dran, wurde ich ins Bett geschickt.» Dreier ist traurig und wütend zugleich. «Während in der Bauernstube das ‹Stille Nacht, heilige Nacht› gesungen wurde, lag ich allein und hungrig auf meiner Bettstatt.» Friedrich Dreier schluckt leer und wischt sich die Tränen aus den Augen. «Das werde ich nie vergessen», sagt er nachdenklich.

Alkoholexzesse und Drogenkonsum

Mit 16 Jahren wird Dreier in eine Lehrlingsanstalt versetzt. Hier macht er eine Lehre als Schreiner und kann sich schnell seinen Platz in der Gruppe erkämpfen. Als er volljährig ist, wird er aus der Anstalt entlassen. «Ich war mit der neuen Freiheit völlig überfordert», gesteht Dreier. Die Folge: Alkoholexzesse und Drogenkonsum. «Ich habe mir oft überlegt, etwas zu verbrechen, damit ich eingesperrt würde», erinnert er sich. Nach einer Odyssee landet er schliesslich in Pratteln und wird als Lagerarbeiter bei Coop angestellt. Später kann er sich hier zum Kaffee­röster weiterbilden. Es folgen Managementschulungen und der Aufstieg zum stellvertretenden Leiter der gesamten Produktionsabteilung und Leiter der QS-Abteilung (Qualität und Sicherheit). In dieser Zeit lernt er auch seine spätere Lebenspartnerin kennen. Doch das Glück ist von kurzer Dauer. Seine Partnerin stirbt vor zehn Jahren. Dreier fällt in ein tiefes Loch.

Das Geschehene aufarbeiten

Heute ist Dreier 59 Jahre alt, IV-Rentner und lebt in Ernen. Das Interesse für Mineralien zog ihn vor vielen Jahren ins benachbarte Binntal. Heute sammelt er Bilder und Texte über Ernen und baut ein Archiv auf. Die Idee, ein Buch über seine traumatischen Erlebnisse zu schreiben, reift in ihm vor zwei Jahren. Damals erfährt er unverhofft, dass er zwei Schwestern hat. «Ich war völlig perplex, weil ich immer gemeint habe, dass ich ein Einzelkind bin.» Das Treffen mit seiner noch lebenden Schwester wird sehr emotional. «Wir nahmen uns in die Arme und haben beide geweint.» Schliesslich ermuntert ihn ein Gast seiner Nachbarin Marie, seine Lebensgeschichte niederzuschreiben. Daraufhin entsteht während fünf Monaten das Buch. Die Leiterinnen und Leiter in den Heimen hat er nie wieder ­getroffen. «Ich will diese Menschen auch nicht wiedersehen», sagt Dreier. «Denn obwohl ich ihnen verziehen habe, kann ich das Erlebte nicht vergessen.»

«Hungrig, ungeliebt und misshandelt – Ich war ein Verdingkind», Orell Füssli Verlag

Walter Bellwald

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