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Tabuthema Tod

Die berühmte Inschrift im Beinhaus in Naters: «Was ihr seid, das waren wir, was wir sind, das werdet ihr.»
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Die berühmte Inschrift im Beinhaus in Naters: «Was ihr seid, das waren wir, was wir sind, das werdet ihr.»
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Jeder kennt ihn, doch kaum einer will sich ernsthaft mit ihm beschäftigen. Trotzdem, eines Tages trifft er jeden von uns: der Tod.

Der Schauspieler und Regisseur Woody Allen sagte einmal: «Ich habe keine Angst vor dem Sterben, ich möchte nur nicht dabei sein.» In unserer heutigen Gesellschaft wird das Thema Sterben und Tod immer mehr in den Hintergrund gedrängt. Wir leben in einer Kultur der Todesverdrängung. Die meisten Menschen verdrängen die Endlichkeit, obwohl sie für jeden von uns gilt. Es soll sogar Ärzte geben, die es schaffen, ihr ganzes Studium lang in der klinischen Ausbildung keinen einzigen Toten zu sehen. Sie sehen Schwerstkranke und Sterbende, aber keine Toten. Tote werden sehr schnell entfernt. Vorbei sind die Zeiten, als die Verstorbenen zu Hause aufgebahrt wurden, auch Kinder in den offenen Sarg geschaut und den Toten vielleicht noch einmal berührten. Früher sind fast alle Menschen zu Hause gestorben, heute nur noch jeder vierte. Jetzt versucht man, diesen Trend wieder umzukehren. Mehr Menschen sollen wieder zu Hause sterben können.

Kultur des Sterbens

«Wir müssen Sterben und Tod als Kernbestandteil des menschlichen Lebens anerkennen», fordert Otfried Höffe, Philosophieprofessor und Präsident der Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin der Schweiz, und formuliert in einem Gastkommentar in der NZZ Thesen zur Kultur des Sterbens. Höffe bemängelt, dass uns Rituale im Umgang mit Sterben und Tod verloren gegangen sind und sieht eine Kultur des Abschiednehmens für unerlässlich. Etwas, das auch der Gliser Pfarrer Daniel Rotzer bestätigt: «Die Möglichkeit, Abschied nehmen zu können, ist für Angehörige und Freunde von Verstorbenen sehr wichtig. Rituale helfen und tragen.» Weiter weist Höffe darauf hin, dass auch die Medizin sich dem Sterben und dem Tod beugen müsse und das medizinische Aufgabenfeld um die Palliativmedizin zu erweitern sei. 65 000 Menschen sterben jedes Jahr in der Schweiz. Nur 10 Prozent dieser Menschen trifft dies überraschend und unvorbereitet. Die grosse Mehrheit stirbt heute nach einem meist lang andauernden Krankheitsprozess und zunehmender Pflegebedürftigkeit. In dieser letzten Lebensphase steht nicht mehr Heilung, sondern Linderung im Zentrum. Einer, der den Tod tagtäglich erlebt, ist der Palliativmediziner Gian Domenico Borasio, der am Universitätsspital in Lausanne den bisher einzigen Lehrstuhl für Palliativmedizin in der Schweiz innehat. Er ist Autor des Bestsellers «Über das Sterben». «Unsere Aufgabe ist es, Hindernisse wegzunehmen, die zwischen dem Menschen und seinem eigenen Tod stehen. Wir sind weniger Sterbebegleiter, vielmehr Hebammen für das Sterben», umschreibt Borasio in einem Interview mit dem «Tages Anzeiger Magazin» die Aufgaben der Palliativmedizin. Das wichtigste Prinzip sei, die Patienten dort abzuholen, wo sie stehen. Die palliative Sorge und Fürsorge­ darf aber nicht auf rein medizinische Kompetenzen verkürzt werden. Sterbepatienten haben auch eine emotionale, soziale und spirituelle Dimension. Diesem erweiterten Aufgabenfeld widmet sich etwa die Hospizbewegung mit der Devise: «Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben.» Auch für Pfarrer Rotzer wäre ein Sterbehospiz im Oberwallis eine gute Idee.

Reaktion auf Techno-Medizin

Die Palliativmedizin und auch die Hospizbewegung sind in gewisser Hinsicht eine Reaktion auf die Exzesse einer technologisierten Medizin, welche, von ihren grossartigen Erfolgen begeistert, etwas zu sehr in Richtung Todesverdrängung und Übertherapie abgedriftet ist. Nun schwingt das Pendel langsam wieder zurück. Immer mehr Menschen haben Angst vor Übertherapie und Kontrollverlust am Lebens­ende. «Noch immer ist der Tod der blinde Fleck eines Lebens im Betriebssystem der allgemeinen Optimierung, noch immer bleibt er die grösste narzisstische Kränkung des auf seine Autonomie pochenden Individuums», schrieb der deutsche Journalist Christian­ Schüle in der «Zeit». Laut Gesetz hat jeder Mensch das Recht auf ein gutes Leben; das Recht auf einen guten Tod ist nirgendwo verbrieft. Borasio weist darauf hin, dass wenn es um Selbstbestimmung am Lebensende geht, der Therapieentscheidung eine viel grössere Bedeutung zukommt als dem assistierten Suizid.­ In der Schweiz wird laut Borasio bei ungefähr der Hälfte der Todesfälle am Ende irgendeine medizinische Entscheidung getroffen, die darin besteht, dass man eine lebenserhaltende Massnahme­ nicht mehr beginnt oder sie beendet. Das sind also fünfhundert von tausend Fällen. Der assistierte Suizid­ kommt in fünf von tausend Fällen­ vor. Für Pfarrer­ Rotzer ist klar: «Der Mensch soll an der Hand eines Menschen sterben, nicht durch die Hand eines Menschen. Das Leben ist ein Geschenk, der erste und der letzte Tag ist nicht in unserer Hand.»

Altruismus am Lebensende

Bei einer Untersuchung über die Wertvorstellung von Sterbenden zeigen die Ergebnisse eindrucksvoll, dass Menschen, die den Tod vor Augen haben, die Wichtigkeit der anderen entdecken: Bei allen getesteten schwerstkranken Menschen lässt sich, unabhängig von ihrer Religion oder der Art ihrer Krankheit, eine Verschiebung ihrer persönlichen Wertvorstellungen hin zum Altruismus beobachten, also eine durch Rücksicht auf andere gekennzeichnete Denk- und Handlungsweise. Dies im Gegensatz zur «gesunden» Allgemeinbevölkerung. Diese Verschiebung der Wertvorstellung steigere erstaunlicherweise auch die Lebensqualität der Schwerstkranken, so Borasio. Erst im Angesicht des Todes erkennen also viele, worauf es wirklich ankommt. Die Auseinandersetzung mit dem Tod sei die beste Gewähr für ein gutes Leben. Deshalb lohne es sich, das Leben vom Tod her zu sehen.

Frank O. Salzgeber

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