Frontal-Interview | Professorin Pasqualina Perrig-Chiello

«Familie darf nicht nur Privatsache sein»

Pasqualina Perrig-Chiello
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Pasqualina Perrig-Chiello
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Professor Pasqualina Perrig-Chiello ist eine der renommiertesten Psychologinnen in der Schweiz. Im Interview spricht sie über die Forderung nach mehr gesellschaftlicher Verantwortung für die Familie, Kinder als Projekt und was ihr Sorgen bereitet.

Professor Perrig-Chiello, die Statistiken zeigen: Eltern sind bei der Geburt des ersten Kindes immer älter. Ist das gut oder schlecht?
Das Alter ist nicht primär entscheidend, wichtig ist viel mehr Liebe und Zuwendung und eine soziale Sicherheit. Erstgebärende sind heute Ende 20, Anfang 30 – ein gutes Alter, um das erste Kind zu bekommen.

Warum?
Die Eltern haben eine gewisse Lebenserfahrung, sind auch beruflich gut verankert. Die Kinder sind zumeist Wunschkinder – alles gute Ausgangsbedingungen für Eltern und Kind. Bei einer zu frühen Elternschaft, zum Beispiel im Teenager-Alter, ist das nicht gewährleistet. Aber auch eine späte Erstelternschaft kann Risiken mit sich bringen.

Was sind die negativen Punkte am «späten» ersten Kind?
Es besteht das Risiko, dass das Kind – häufig ein Einzelkind – einen überhöhten Stellenwert im Leben der Eltern einnimmt. Verbunden damit ist häufig ein ängstlicher und überbehüteter Erziehungsstil.

Gibt es für Sie ein Alter, in dem man zu alt für ein Kind ist?
Es gibt bei Frauen eine biologische Deadline, die Menopause. Den Trend, mit grossem medizinischem Aufwand diese von der Natur gesetzte Grenze auszuhebeln, finde ich bedenklich. Aber auch eine späte Vaterschaft, selbst wenn sie biologisch möglich ist, ist nicht unproblematisch. Nicht nur wegen der erwiesenermassen existierenden medizinischen Probleme, sondern auch wegen der psychosozialen Folgen für das Kind. Etwa weil seine Eltern als Grosseltern wahrgenommen werden oder seine Angst, die Eltern zu verlieren oder dass sie ernsthaft krank werden. Das alles stellt eine echte Hypothek für das Kind dar.

Ist das Kind dann da, stellt sich die Frage, wie die Familie künftig die Betreuung und die Arbeit regelt. Das führt immer wieder zu Konflikten. Gehen die Familien zu blauäugig in das Projekt «Kind»?
Die Forschungen zeigen, dass die künftigen Eltern sich zumeist recht gut auf die bevorstehende Elternschaft vorbereiten. Allerdings driften Theorie und Praxis nach der Geburt des Kindes oft auseinander.

Woher kommt das?
Vieles scheitert an den unterschätzten Schwierigkeiten, Familie und Beruf zu vereinbaren. Gerade die Väter haben vor der Geburt zumeist die Absicht, «ihren Beitrag» in Haushalt und Kinderbetreuung zu leisten. Ist das Kind einmal da, merken sie, dass sich ihre Pläne nicht so leicht umsetzen lassen.

Sind die Männer also unzuverlässig, was ihre Versprechen bezüglich Betreuung der Kinder betrifft?
Nein, der gute Wille ist sicher da. Bei einigen ist es gewiss so, dass sie dem Stress nicht gewachsen sind und sich in der Folge zurückziehen. Die Mehrheit aber scheitert an den mangelnden Möglichkeiten, etwa bei Bedarfsfall ihr Arbeitspensum zu reduzieren.

Das bedeutet?
Obwohl immer wieder beteuert wird, dass die Familie etwas Wichtiges sei, hat sie de facto gesellschaftlich und politisch keinen hohen Stellenwert. Familie wird ausschliesslich als Privatsache angesehen. Das finde ich grundfalsch.

Wieso?
Die Familie ist die Grundzelle der Gesellschaft. Wenn man aber nicht in diese Grundstruktur investieren will, dann muss man auch nicht lamentieren, dass die Geburtenraten so tief sind. Immer mehr junge Leute entscheiden sich bewusst zur Kinderlosigkeit. Grund hierfür ist nicht nur der zunehmende Individualismus, sondern primär eine nüchterne Einschätzung der Schwierigkeiten, Beruf und Familie zu vereinbaren. Das hat negative Auswirkungen auf die Wirtschaft und setzt vor allem die Sozialwerke massiv unter Druck.

Wo fordern Sie denn ein vermehrtes Engagement seitens des Staates?
Die Schweiz investiert extrem wenig in die Familie. Im europäischen Vergleich ist sie am untersten Ende. Die familienergänzenden Betreuungsangebote müssen verbessert und ausgebaut werden. Es braucht nicht nur Krippenplätze, sondern auch Tagesstrukturen für Schulkinder sowie familienfreundliche Schulzeiten. Aber nicht nur der Staat ist gefordert, sondern auch die Betriebe. Es braucht flexiblere Lösungen bezüglich Arbeitszeiten – für Frauen wie für Männer.

Sie sprechen von Familie. Gibt es denn «die» Familie überhaupt noch?
Ja. 80 Prozent aller Kinder in der Schweiz wachsen auch heute in einer «traditionellen» Familie auf, also mit ihren leiblichen Eltern. Die Formen der Familie haben sich im Laufe der Geschichte verändert, wir haben zunehmend neue Formen. Die Funktion der Familie aber, nämlich Halt und Geborgenheit zu geben, ist aber immer noch die gleiche wie vor 2000 Jahren.

In den meisten Familien gehört eine Teilzeitarbeitsstelle, meistens seitens der Frauen, zum Alltag. Sie sagen, dass dabei kleine Pensen belastender sein können als grosse. Warum ist das so?
Je höher die Arbeitspensen, desto besser sind erwiesenermassen die beruflichen Aufstiegschancen sowie auch die Entlastung durch den Partner in Familie und Haushalt. Die heutige Generation der Frauen ist zwar so gut ausgebildet wie keine zuvor, stösst aber beruflich noch an viele Grenzen. Das liegt einerseits wie erwähnt am ungenügenden Betreuungsangebot, andererseits ist die Arbeitswelt generell noch nicht wirklich auf Frauen und Familie eingestellt. Hier müssen grosse Anstrengungen unternommen werden. Die Sozialwerke sind dringend auf die Gelder der Frauen angewiesen, wenn sie in Zukunft Bestand haben wollen.

Wie sehen Sie die heutigen Männer. Leiden diese, wie oft gesagt wird, an einer Identitätskrise?
Historisch gesehen ist es sicher keine leichte Zeit für die Männer. Jahrtausende lang war die Rolle des Mannes klar definiert. Männliche wie weibliche Geschlechtsrollen sind derzeit im Wandel, wobei insbesondere Männer ganz offensichtlich Mühe haben, sich neu definieren.

Woher kommt diese Mühe?
Viele Männer sind verunsichert, es fehlt ihnen in ihrer Entwicklung häufig an gleichgeschlechtlichen Identifikationsfiguren. Die Jungen wachsen in einem zumeist weiblichen Umfeld auf – sei es in der Schule, aber auch in der Familie. Diese Tatsache macht es den jungen Männern im Moment schwer, sich zurechtzufinden. Aber ich bin überzeugt, dass sie ihren neuen Platz in der Gesellschaft finden werden. Früher oder später.

Haben Sie einen Tipp für die Männer?
Viele Probleme der Männer sind darin begründet, dass sie ihre Probleme nur schlecht kommunizieren können und Mühe haben, Hilfe zu beanspruchen und anzunehmen. Die Einsicht hierin könnte ihnen wohl weiterhelfen.

Die Familien haben weniger Kinder. Werden die Kinder dadurch zu sehr verhätschelt?
Die Familie ist in der Tat zunehmend zu einer «Bohnenstangenfamilie» geworden, bestehend aus mehreren Generationen, aber mit immer weniger Angehörigen. Das ist aber nicht das Hauptproblem. Problematisch wird es, wenn das Kind zum Projekt der Eltern wird und als Mittel ihrer Selbstverwirklichung. Das kann dann dazu führen, dass das Kind zum «kleinen König» oder gar zum Tyrannen wird. Dem Kind ist damit nicht gedient. Daher ist es wichtig, dass Kinder schon früh den Kontakt mit anderen Kindern erleben, zum Beispiel in einer Kita, damit sie lernen: Moment, es gibt auch andere, die Bedürfnisse haben.

Hätten die Familien mehr Kinder wäre das Problem aber nicht so gravierend.
Diese Diskussion ist müssig. Man muss sich mit der Realität arrangieren. Vielleicht müssen wir aber umdenken, indem wir den Familienbegriff nicht so eng definieren und ihn mehr an Wahlverwandtschaften statt an Blutsverwandtschaft knüpfen. Sprich, nicht direkt verwandte Menschen, zum Beispiel Freunde oder Nachbarn, schliessen sich zu einer Art «Familie» zusammen und generieren so das soziale Umfeld, das früher durch die Grossfamilien gestellt wurde.

Machen Kinder denn eigentlich glücklich?
Forschungen zeigen, dass zumeist die Vorfreude gross ist, der Alltag danach aber doch recht stressig. Die Glückskurve lässt somit etwas nach, insbesondere wenn grosse Erwartungen gesetzt wurden, die halt nicht direkt erfüllt werden können. Das Schöne ist jedoch, dass das Glück im Laufe der Zeit wieder zunimmt. Die Antwort auf die Frage, ob Kinder glücklich machen lautet also: Ja, aber man muss ein bisschen Ausdauer haben.

Welche Rolle spielen die Grosseltern in der heutigen Familie?
Eine grössere denn je. Die Betreuungsleistung der Grosseltern in der Schweiz hat einen Gegenwert von rund zwei Milliarden Franken pro Jahr. Ohne die Hilfe ihrer Eltern, zumeist der Mütter, könnten viele Frauen aufgrund der fehlenden familienergänzenden Betreuungsmöglichkeiten gar nicht beruflich tätig sein. Neben der finanziellen Bedeutung, haben Grosseltern auch eine psychologische. Kinder, die von den Grosseltern betreut werden, können in vielerlei Hinsicht enorm profitieren – und natürlich umgekehrt. Das finde ich sehr schön.

Gibt es etwas, das Ihnen in der ganzen Sache Sorgen macht?
Das mangelnde politische Interesse der Familie gegenüber bereitet mir Sorgen. Meine Vision ist ein gesamtgesellschaftlich verantwortungsvolles Engagement für die Familie und somit für die kommenden Generationen frei von parteipolitischem und ökonomischem Kalkül.

Martin Meul

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Infos

Zur Person

Vorname Pasqualina
Name Perrig-Chiello
Geburtsdatum 7. Oktober 1952
Familie verheiratet, 2 Kinder
Beruf Psychologin
Hobbies Schreiben, Natur

Nachgehakt

Ich habe Angst vor dem Älterwerden. Nein
Ich bin froh, dass ich in der heutigen Zeit kein Mann bin. Ja
Eltern sind heute gestresster als früher. Ja
Der Joker darf nur einmal gezogen werden.  

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