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"Viele Verschüttete waren bis zur Unkenntlichkeit entstellt"

Peter Anthamatten: "Ich wusste instinktiv, dass etwas Schlimmes passiert sein musste."
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Peter Anthamatten: "Ich wusste instinktiv, dass etwas Schlimmes passiert sein musste."
Foto: RZ

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Am 30. August 1965 kommt es beim Bau des Mattmark-Stausees zur Katastrophe. Bei einem Gletscherabbruch kommen 88 Arbeiter ums Leben. Peter Anthamatten (78), der bei dem Unglück seinen Vater­ und Getti verliert, erinnert sich an die dramatischen Stunden.

Herr Anthamatten, in zehn Tagen jährt sich die Tragödie am Mattmark zum 50. Mal. Mit welchen Gefühlen sehen Sie dem Jahrestag entgegen?
Für mich ist das ein Tag wie jeder andere. Die Redewendung «Die Zeit heilt alle Wunden» trifft auch in diesem Fall zu. Die ersten Jahre war die Erinnerung an die Katastrophe stetig präsent, aber mit den Jahren ist sie ein bisschen verblasst.

Sie haben bei der Tragödie Ihren Vater und Ihren Getti verloren. Erinnern Sie sich noch an den verheerenden Tag?
Natürlich. Ich habe dazumal in Saas-Almagell auf einem Treuhandbüro gearbeitet. Mein Vater und mein Onkel waren auf der Baustelle im Mattmark tätig. Am späteren Nachmittag kam plötzlich meine Mutter angerannt und klopfte völlig aufgeregt gegen das Fenster. Ich wusste sofort instinktiv, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Als ich das Fenster öffnete, berichtete meine Mutter, dass sich im Mattmarkgebiet ein Gletschersturz ereignet habe. Wir liefen sofort los und sind knapp eine halbe Stunde nach dem Ereignis vor Ort eingetroffen.

Sie waren einer der Ersten, der am Unglücksort eingetroffen ist. Was für ein Bild haben Sie angetroffen?
Alles war in heller Aufregung. Die meisten der Anwesenden waren konsterniert und betrachteten die schier unfassbare Szenerie. Es sah aus wie auf einem Schlachtfeld. Die Eisblöcke hatten die ganze Baustelle zerstört und man konnte nur mutmassen, wie viele Arbeiter unter dem Eis begraben waren.

Wurden Sie von einer gewissen Ohnmacht übermannt?
Die Situation war schon sehr speziell. Zuerst habe ich auf der Baustelle einen Arbeiter aus dem Kanton Uri angetroffen, der bei uns als Untermieter einquartiert war. Der Mann stand wie unter Schock. Er konnte keine genaue Auskunft über den Ablauf des Unglücks machen. Sein Kollege, der ebenfalls bei uns wohnte, war nirgends auffindbar. Auf einmal rief einer der Arbeiter, dass ein Kopf auf dem Eisfeld zu sehen sei. Sofort liefen alle in Richtung des Eisfeldes. Tatsächlich konnte der Mann praktisch unversehrt gerettet werden. Dabei handelte es sich um Oskar Anthamatten aus Saas-Grund, der als Einziger die Tragödie überleben sollte.

Auch Ihr Vater und Ihr Getti, die zum Zeitpunkt des Unglücks auf der Baustelle waren, wurden unter den Trümmern vermutet...
Als ich auf der Unfallstelle eingetroffen bin, wurde mir bald einmal klar, dass es wohl nur wenig Überlebende geben würde. Ich stand einfach hilflos da und war wie betäubt. Ich konnte auch nicht meine Gedanken ordnen. Es war einfach schier unmöglich, hier Hilfe zu leisten. Niemand redete ein Wort. Es war eine gespenstische Szene. Zwischendurch wurde die Stille durch den Ton einer Sirene unterbrochen, die vor weiteren Gletscherabbrüchen warnte.

Also blieb Ihnen nichts anderes übrig, als wieder tatenlos ins Dorf zurückzukehren?
Nach rund zwei Stunden mussten wir die Rückkehr antreten. Es war eine sehr bedrückende Stimmung und alle hingen ihren eigenen Gedanken nach. Die ersten Nächte nach der Katastrophe habe ich sehr schlecht geschlafen. Ich bin immer wieder aus dem Schlaf aufgeschreckt und habe die schrecklichen Bilder vor meinem geistigen Auge gesehen. Es war fürchterlich.

Wann haben Sie erfahren, dass Ihr Vater unter den ­Toten ist?
Zusammen mit meinen Onkeln bin ich jeden Tag auf die Baustelle gegangen, um mich zu erkundigen. Schon am ersten Tag nach der Katastrophe wurden die ersten Leichen geborgen. Darunter war auch mein Getti. Mein Vater wurde erst rund vier Wochen später gefunden. Praktisch jeden Tag wurden die sterblichen Überreste mit dem Helikopter ins Dorf geflogen. Hier mussten die Angehörigen oder Arbeitskollegen die Leichen identifizieren. Das war keine angenehme Aufgabe. Die Sucharbeiten nach den Verschütteten dauerten rund drei Monate.

Sie waren bei der Identifizierung der Leichen mit dabei. Wie sind Sie mit dieser psychischen Belastung umgegangen?
Das war alles andere als einfach. Vor allem auch darum, weil von vielen Verschütteten nur mehr Gliedmassen übrig waren. Sie waren bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Ich erinnere mich noch an einen Fall, bei dem ich den Toten aufgrund des Gürtels identifizieren konnte. Der Mann war bis zur Unkenntlichkeit zerschlagen und nicht mehr wiedererkennbar. Als ich den Gürtel sah, wusste ich sofort, dasss es sich um einen jungen Mann aus St. Niklaus handelte. Aufgrund dessen konnte der Mann dann auch identifiziert werden. Schliesslich konnten alle 88 Toten geborgen und beerdigt werden.

Wie haben Sie diese schrecklichen Bilder verarbeitet?
Weil es damals noch kein sogenanntes Care-Team gab, blieb uns nichts anderes übrig, als uns untereinander auszutauschen. Das war die einzige Möglichkeit, um diese Bilder zu verarbeiten.

Wie war die Stimmung im Dorf? Kamen viele Schaulustige ins Dorf?
Die ersten Tage war eine bedrückende Stimmung im Dorf. Die Menschen waren irritiert und konnten die Geschehnisse nicht richtig einordnen. Die Schaulustigen hielten sich aber glücklicherweise in Grenzen. Währenddem waren viele Fachleute im Dorf, die bei der Identifizierung der Toten halfen und entsprechende Untersuchungen durchführten.

Sie haben bei dem Unglück Ihren Vater und den Getti verloren. Gab es auch Momente, wo Sie mit dem Herrgott gehadert haben?
Nein. Wir hatten einen starken Glauben und haben uns mit dem Schicksal abgefunden. Auch das Gebet hat uns geholfen, diese Tragödie zu verarbeiten.

Schon im Vorfeld der Katastrophe hatten viele Arbeiter, die am Bau des Mattmark-Stausees beteiligt waren, ein ungutes Gefühl. Auch Ihr Vater hatte eine Vorahnung...
Mein Vater arbeitete früher auf dem sogenannten Seeboden, später war sein Arbeitsplatz auf dem Damm direkt unter dem Gletscher. Meiner Mutter gegenüber hat er mehrmals gesagt, dass er sich in diesem Gebiet nicht sicher fühle, weil es immer wieder zu kleineren Gletscherabbrüchen gekommen ist. Dabei wurde auch eine Baracke zerstört. Bei diesem ersten Abbruch kam aber glücklicherweise niemand ums Leben. Später wurden auch sogenannte Wachposten eingeführt, die den Gletscher im Auge behalten sollten. Einer der Wachposten war Oskar Anthamatten, der später als Einziger das Unglück überleben sollte.

1972, sieben Jahre nach dem Unglück, wurden alle 17 Angeklagten freigesprochen. Wie haben Sie den Prozess erlebt?
Was mir persönlich gefehlt hat, war die Betreuung und Unterstützung für die Betroffenen. Wir fühlten uns oft im Stich gelassen. Letztlich bringt es aber wenig, darüber zu hadern. Wichtig ist, dass man die richtigen Lehren aus diesem Unglück zieht. Wir haben zusammen mit anderen Familien, die einen Angehörigen verloren haben, eine sogenannte Sammelklage eingereicht. Schliesslich wurde jeder Witwe und jedem Kind, welches zum Zeitpunkt des Unglücks noch nicht zwanzig Jahre alt war, ein Entgelt von 10 000 Franken ausgezahlt. Das hat aber nicht darüber hinweggetäuscht, dass es gar nie zu diesem Unglück hätte kommen dürfen.

Auch heute, knapp fünf Jahrzehnte nach einer der grössten Katastrophen im Alpenraum und in der Geschichte der Gebirgsbaustellen, gibt es noch immer keine abschliessende Antwort über die Voraussehbarkeit des Unglücks...
Eine schlüssige Antwort wird es wohl nie darauf geben. Aber dass man ein Barackendorf direkt unter einem Gletscher aufstellt, war sicher nicht die intelligenteste Lösung. Ob es Alternativen gegeben hätte, darüber ist müssig zu spekulieren.

Der Bau des Mattmarks war für die Talschaft von Saas aber nicht nur Fluch, sondern auch Segen. Der Kraftwerkbau brachte Arbeit und Brot und die Konzessionsgemeinden beziehen als Abgeltung für die Wasserkraft beträchtliche Summen an Wasserrechtsabgaben und Steuern. Wie sehen Sie den Bau des Staudamms heute?
Das Saastal hat in der Vergangenheit sehr stark davon profitiert. Nicht nur die ganzen Baukonsorten, auch die touristischen Unternehmen und die Gemeinden haben einen grossen Nutzen daraus gezogen. Auch heute noch hat der Mattmark-Stausee eine grosse touristische Anziehungskraft und die Wasserzinsen sind für die Gemeinden eine wichtige Einnahmequelle. Trotzdem steht das Unglück wie ein grosser Schatten über den positiven Errungenschaften. Dass vor fünfzig Jahren 88 Menschen bei dem Unglück sterben mussten, steht wie ein Mahnmal in der Gegend.

Gehen Sie noch regelmässig zum Mattmark-Stausee?
Jede Woche gehe ich zwei, dreimal mit dem Velo ins Mattmarkgebiet. Und jedes Mal ist die Erinnerung an das Unglück präsent. Das werde ich niemals vergessen.

Walter Bellwald

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Infos

Zur Person

Vorname Peter
Name Anthamatten
Geburtsdatum 10. Juli 1937
Familie Verheiratet, vier Kinder, neun Enkelkinder
Beruf Pensionär
Funktion  
Hobbies Velo fahren

Nachgehackt

Bei jedem grossen Unglück kommt mir die Mattmark-Katastrophe in den Sinn.  Ja
Der Mattmark-Stausee ist touristisch für das Saastal sehr wichtig.  Ja
Ich habe heute noch Alpträume von der Katastrophe.  Nein
Der Joker darf nur einmal gezogen werden.  

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