Frontal | Patrick Rohr, Fotojournalist

«Ich will mit meinen Bildern eine Geschichte erzählen»

Patrick Rohr bei den Massai in Kenia...
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Patrick Rohr bei den Massai in Kenia...
Foto: Peter Lüthi/Biovision

...und in einem Altersheim in Japan.
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...und in einem Altersheim in Japan.
Foto: Reto Vetterli/SRF

Quelle: RZ 0

Er war in Laos, Uganda und Tansania und reiste für Helvetas nach Bangladesch in ein Flüchtlingslager der Rohingya. Bei solchen Einsätzen wird Fotojournalist Patrick Rohr (51) immer wieder mit Tod, Elend und Verderben konfrontiert. Wie er damit umgeht, was ihn antreibt und wie er über seine Wahlheimat Tokio denkt, sagt er im RZ-Interview.

Patrick Rohr, Sie pendeln zwischen Zürich, Amsterdam und Tokio. Wo fühlen Sie sich zu Hause?
Ich fühle mich da am meisten zu Hause, wo mein Mann Simon daheim ist. Und das ist momentan Tokio. Wenn ich allein in Tokio wohnen würde, würde ich mich wohl nicht so schnell zu Hause fühlen. Denn: In Japan bin ich Fremder und bleibe ein Fremder, obwohl ich fleissig Japanisch lerne. Zu zweit ist ein solches Abenteuer einfacher. In Amsterdam habe ich mein Herz an die Stadt verloren. Und in Zürich ist es halt auch schön (lacht). Und wenn ich wieder mal ins Wallis komme, wo meine Familie wohnt, dann bin ich auch hier daheim. Zusammenfassend lässt sich sagen, ich fühle mich auf der Welt zu Hause.

Sie sind Fotojournalist, schreiben Bücher, halten Referate. In dieser Reihenfolge?
Es wäre ein Traum, als Fotojournalist durch die Welt zu reisen und grosse Reportagen für Magazine und Zeitungen zu realisieren. Aber allein davon könnte ich nicht leben. Darum halte ich auch Vorträge, mache Fotoausstellungen, schreibe Bücher. Mein Ziel ist es, mit meiner Arbeit Menschen eine Stimme zu geben, die sonst nicht gehört werden.

In Amsterdam haben Sie eine vierjährige berufsbegleitende Ausbildung als Fotograf gemacht. Was fasziniert Sie an der Fotografie?
Ich finde es reizvoll, mit Bildern eine Geschichte zu erzählen und dabei dem Menschen auf dem Bild gerecht zu werden. Um das zu lernen, habe ich diese Ausbildung gemacht – neben meiner Arbeit als Kommunikationsberater und Moderator. Es war eine harte Schule. Wir wurden darauf getrimmt, nicht einfach abzubilden, sondern mit jedem Bild eine Botschaft zu vermitteln. Dabei kam ich oft an meine Grenzen, merkte aber auch, dass ich zu viel mehr fähig bin, als ich dachte. Für meine Abschlussarbeit reiste ich in die Ukraine, ein Land im Krieg. Ich hatte mir zur Aufgabe gemacht, tief in die Gesellschaft einzutauchen. Ich traf einen hohen Kirchenvertreter, ging zu Kämpfern der rechtsradikalen Nationalisten, fotografierte Menschen, die bei der Demo auf dem Maidan-Platz vor fünf Jahren angeschossen wurden. Die Aufgabe eines Dokumentar- und Porträtfotografen wie mir ist nicht, einfach nur Menschen und Gesichter abzulichten, sondern damit Geschichten zu erzählen.

Sie haben in den letzten Jahren völlig unterschiedliche Länder bereist: die Ukraine, Laos, Nepal, Uganda, Bosnien, Äthiopien, Kenia, Tansania – und kommen gerade aus dem Flüchtlingslager der Rohingya in Bangladesch zurück. Hat Sie die Begegnung mit den Flüchtlingen aufgewühlt?
Ich war da im Auftrag von Helvetas, und es war sehr eindrücklich. Die Rohingya sind eine traumatisierte muslimische Minderheit im buddhistischen Myanmar. Tausende von ihnen wurden abgeschlachtet, vergewaltigt. Eine Million ist geflohen. Die Rohingyas sind eine sehr konservative Gemeinschaft, was die Zusammenarbeit manchmal zu einer Herausforderung macht. Viele Rohingya-Frauen beispielsweise möchten sich nicht fotografieren lassen, weil sie sonst geächtet werden. Eine solche Situation habe ich im Lager erlebt. Nachdem ich eine Rohingya-Frau mit ihrer Einwilligung fotografiert hatte, wurde sie von den Nachbarn aufs Übelste beschimpft, und ich musste befürchten, dass sie nach meiner Abreise ausgegrenzt wird. Darum habe ich beschlossen, die Bilder noch vor Ort zu löschen und eine neue Familie für die geplante Geschichte zu suchen.

Sie haben Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit in Bildern festgehalten. Bleibt in solchen Momenten überhaupt Platz für Gefühle?
Mit jedem Menschen, den ich fotografiere, baue ich eine Beziehung auf. Das mag komisch klingen, ist aber ein wichtiger Teil meiner Arbeit. 80 Prozent meiner Bilder beruhen auf der Gefühls- und Beziehungsebene, die restlichen 20 Prozent sind Technik. Ich versuche, die Menschen nie als Opfer abzubilden. Ich will sie in ihrer Würde, ihrem Stolz, ihrer Widerstandskraft abbilden. Und häufig sind meine Bilder auch sehr fröhlich, trotz der Hoffnungslosigkeit und dem Elend, das die Situation mit sich bringt, denn wir lachen bei der Arbeit viel.

Wie verarbeiten Sie die Eindrücke?
Das kommt ganz drauf an. Wenn ich an einem Ort bin, wo ich extreme Hoffnungslosigkeit spüre wie bei den Rohingya oder in einem Bergdorf in Nepal auf 2000 Meter über Meer, wo ich die Menschen nach dem Erdbeben besucht habe, dann beschäftigt mich das sehr. Als ich nach meinem ersten Besuch im Rohingya-Lager letztes Jahr nach zwei Wochen wieder zurückgekehrt bin, verfolgten mich zehn Tage lang die wildesten Träume. Man muss sich das vorstellen: Die Leute sind dort gefangen wie in einem Open-Air-Gefängnis. Sie dürfen das Gelände des Flüchtlingslagers, das zweimal so gross ist wie die Stadt Zürich, nicht verlassen. Sie können nicht zurück nach Myanmar, dürfen aber auch nicht in Bangladesch bleiben. Sie sind Staatenlose. Tausende von Babys, die im Lager zur Welt kommen, haben keine Nationalität. Da spielt sich eine gewaltige humanitäre Katastrophe ab, und die Welt schaut zu. So etwas beschäftigt mich extrem, und ich frage mich oft, warum die Welt so ungerecht ist.

Bringt man die Geräusche, Gerüche und Gefühle überhaupt aus dem Kopf?
In erster Linie hilft mir das Auswählen und Bearbeiten der Bilder. Es ist wie wenn man ein Fotoalbum nach den Ferien anschaut. Ich gehe die Reise und Begegnungen noch einmal durch und das hilft mir, das Gesehene zu verarbeiten. Zudem habe ich mit vielen Leuten, die ich fotografiere, einen guten Kontakt über Facebook. Mein Facebook-Account ist voll mit Leuten aus Tansania, Laos, Nepal, Bangladesch usw.

Gibt es irgendetwas, was Sie nie im Bild festhalten würden?
Es gibt sehr gute Krisen- und Kriegsfotografen. Ich könnte das nicht. Ich hätte einerseits Angst, mich in einem Kriegsgebiet aufzuhalten, und andererseits gibt es für mich ethische und moralische Grenzen – auch beim Fotografieren. Ich habe bei einem Einsatz in einem Feldspital in Bangladesch ein Baby nach der Geburt fotografiert, dem alle Eingeweide herausgekommen sind. Kurz darauf ist das Kind gestorben, da habe ich die Bilder sofort gelöscht. Das war ich dem Kind schuldig.

Vor drei Jahren sind Sie nach Japan geflogen und haben sich in das Land und seine Menschen verliebt, obwohl Sie eigentlich gar nie dahin wollten. Wie kam das?
Bevor mein Mann Simon seine neue Arbeit bei Ärzte ohne Grenzen in Kamerun angefangen hat, hat er mir vorgeschlagen, eine längere Reise nach Japan zu machen. Ich war alles andere als begeistert, weil Japan für mich eine unzugängliche Kultur war. Schliesslich liess ich mich doch dazu überreden, aber mit dem Deal, nach drei Wochen nach Thailand weiterzureisen, falls es mir nicht gefallen sollte. Also sind wir nach Japan geflogen. Mit jedem Tag, den ich in Japan war, hat mich das Land stärker fasziniert. Und als wir nach drei Wochen entscheiden mussten, dazubleiben oder nach Thailand weiterzufliegen, habe ich meinem Partner unter Tränen gesagt, dass ich hier nie mehr wegwolle.

Und dann?
Nach der Rückkehr wollte ich sofort wieder zurück, diesmal mit der Fotokamera. Der Zufall wollte es, dass ich kurz darauf einen Anruf vom Schweizer Fernsehen bekam, das mit mir eine Dok-Sendung als Fotograf drehen wollte. Ich sagte, dass ich planen würde, nach Japan zu gehen, um ein Fotobuch zu machen. Und so sind eine Dok-Serie und ein Buch über Japan entstanden. In der Zwischenzeit hat Simon eine Stelle in Tokio bei Ärzte ohne Grenzen angetreten. Darum ist unser eigentlicher Wohnsitz jetzt in Tokio.

Sie haben Ihre Erlebnisse und Eindrücke in einem Buch zusammengefasst und nehmen die Leser mit auf eine Reise zwischen Tradition und Moderne. Was war Ihre spannendste Begegnung?
In Onagawa im Norden Japans durfte ich den Stadtpräsidenten kennenlernen, einen Mann Mitte vierzig, in Anzug und Krawatte und sehr formell. Im Anschluss an unser Interview hat er mir ein Gitarrengeschäft gezeigt. Dabei hat er mir verraten, dass er Gitarrist in einer Heavy-Metal-Band ist, was niemand wisse, und er hat auch gleich ein Stück von Gotthard zum Besten gegeben. Das hat mich sehr berührt. Ein japanischer Bürgermeister, der dem Protokoll verpflichtet ist und gleichzeitig mit seiner Heavy-Metal-Band auf Tour geht – dieser Widerspruch hat mich fasziniert.

Japan unterscheidet sich nicht nur kulturell, sondern auch in gesellschaftlichen Dingen von der europäischen Kultur. Was sind die grössten Unterschiede?
In Japan gibt es viele ungeschriebene Gesetze. Und man muss «die Luft lesen» können, das heisst, viele Sachen bleiben unausgesprochen. Der Japaner will nie stören und sagt nie Nein. Damit hatte ich anfangs grosse Mühe. Schon nur herauszufinden, was die Japaner sagen wollen, obwohl sie es nicht sagen, ist wahnsinnig kompliziert. Auch in der Sprache haben sie sehr viele Schattierungen, zum Beispiel bildet sich in ihr das soziale Verhältnis der Gesprächspartner ab. Es ist für einen Europäer kaum möglich, das zu verstehen und zu lernen.

Was sind Ihre nächsten Projekte?
Ich möchte gerne die neue Seidenstrasse bereisen und den Menschen entlang dieser Route ein Gesicht geben. Auf dem Landweg von Schanghai nach Rotterdam und auf dem Seeweg über Kenia und Indien wieder zurück nach Schanghai. Das wäre mein Ziel. Ich möchte wieder ein Buch machen und Vorträge realisieren. Ich habe immer noch die gleiche Neugier und die gleiche kindliche Freude wie früher, etwas zu entdecken. Dafür bin ich sehr dankbar.

Walter Bellwald

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Infos

Vorname Patrick
Name Rohr
Geburtsdatum 4. Mai 1968
Familie eingetragene Partnerschaft
Beruf Fotojournalist, Kommunikationsberater, Moderator
Hobbies Ich habe alle Hobbys zum Beruf gemacht
An die japanischen Gepflogenheiten habe ich mich gewöhnt. Ja
Ich werde meinen Lebensabend in Japan verbringen. Joker
Sushi ist meine Leibspeise. Nein
Der Joker darf nur einmal gezogen werden.  

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