Fussball | Sportwissenschaftler Alain Brechbühl zu den Eingangskontrollen beim FC Sitten, der schier unbegrenzten Kreativität der Fans und Lösungsansätzen im Ausland
«Illegalität verhindert kontrolliertes Ablassen»

«Die Problematik muss von ganz oben angepackt werden». Alain Brechbühl hat eine klare Meinung zur Pyro-Problematik in der Schweiz.
Foto: zvg
Alain Brechbühl, Sie haben die zuletzt viel zitierte Studie zum «Good Hosting»-Konzept durchgeführt. Wer hat die Studie in Auftrag gegeben?
«Die Swiss Football League, wobei sich auch die UEFA an der Studie beteiligt hat.»
Was war der Hintergrund der Studie?
«Das ‹Good Hosting›-Konzept wurde insbesondere von Polizeikreisen kritisiert, weil ihrer Ansicht nach mehr pyrotechnisches Material gezündet wurde, als das vor der Einführung des Konzepts der Fall war.»
Diese Eindrücke hat die Universität Bern unter Ihrer Führung mit der Studie widerlegt. Wie sind Sie dabei vorgegangen?
«Wir haben von der Saison 2013/14 bis und mit der Saison 2016/17 50 Prozent aller Spiele in Bezug auf Böller, Knall-Petarden und Pyros untersucht. Dabei sind wir zum Schluss gekommen, dass bei Spielen mit stichprobeweiser Durchsuchung weniger Pyro im Gästesektor gezündet wurde als bei solchen mit genereller Durchsuchung. Im weiteren Verlauf der Studie haben wir feststellen können, dass sich durch den Einsatz von unbewaffneten Stewards und einem beschleunigten Einlass die Situation beim Eingang aus der Sicht aller Involvierten massgeblich beruhigt hat.»
«Good Hosting» hat sich laut Liga und der Mehrheit der Vereine also bewährt. Dem entgegen stehen etwa die Spielabbrüche bei Luzern - Grasshoppers und Sitten - Grasshoppers in der vergangenen Saison.
«Spielabbrüche sind natürlich ‹Worst Case›-Szenarien, die nicht vorkommen sollten. Das sind aber zwei Einzelfälle, die eng mit einem Konflikt zwischen den Anhängern der Grasshoppers, deren Vereinsführung und dem Abstieg von GC in Verbindung stehen. Das sollte bei der Aufarbeitung dieser Fälle beachtet werden. Aus diesen zwei Vorfällen zu schliessen, dass ‹Good Hosting› versagt habe, greift für mich zu kurz. Mit unseren Erkenntnissen wage ich zu bezweifeln, dass eine strengere Kontrolle beim Einlass diese Zwischenfälle hätte verhindern können.»
Der Walliser Staatsrat Frédéric Favre führt genau diese beiden Spiele als Argument ins Feld, wenn es darum geht, die strengeren Kontrollen im «Stade de Tourbillon zu erklären.
«Ich will das Vorgehen im Wallis nicht beurteilen, dafür ist es noch zu früh. Mir ist aber noch unklar, was die genaue Zielsetzung der strengeren Kontrollen ist. Das Finden und Sicherstellen von Pyros? Man darf beim ganzen Thema die Kreativität der Fan-Gruppierungen nicht ausser Acht lassen. Die ist gefühlt grenzenlos.»
Können Sie ein konkretes Beispiel machen?
«In einem Fall haben ‹Ultras› ungefähr eine Woche vor einem Spiel im Stadion ein Lüftungsrohr installiert und darin ihr ‹Material› versteckt. Da muss man jeden Winkel des Stadions kennen, damit einem das auffällt.»
Das heisst also, dass eine Machtlosigkeit gegen diese Kreativität herrscht?
«Man muss sich einfach bewusst sein, dass jede einschränkende Massnahme eine Gegenreaktion hervorruft, deren Auswirkungen schwer abzuschätzen sind. Behörden wie auch Fan-Gruppierungen rüsten auf. Oftmals mündet das in einem Machtspiel zwischen den beiden Parteien. Nicht nur die Fankurve, die bei einem Spiel betroffen ist, sondern auch Kurven in anderen Stadien. Es kam auch letzte Saison regelmässig zu Solidarisierungs-Aktionen zwischen den gegnerischen Fankurven.»
Blicken wir über die Landesgrenzen hinaus, wo die Pyro-Problematik unterschiedlich behandelt wird.
«Ja, in Dänemark etwa wurden Pyros entwickelt, die 230 statt 2000 Grad heiss werden und weniger Rauch erzeugen. Oder im Spiel der 2. Bundesliga in Deutschland zwischen Hamburg und Karlsruhe gab es gerade eine kontrollierte Feuerwerk-Show unter Aufsicht des Sicherheitspersonals und mit Bewilligung des Deutschen Fussball-Bundes – organisiert vom Verein. Einen interessanten Ansatz gibt es aber auch in Österreich.»
Dort sind Pyros legal. Was haben Sie dazu für eine Meinung?
«Nun, wir durften letzten Mai eine Präsentation des Sicherheits-Chefs des Österreichischen Fussballverbands erleben und er hat von durchaus erfreulichen Zahlen berichtet. Pyrotechnisches Material darf in Österreichs Stadien nach Absprache zwischen Fans, Behörden und Vereinen zu genau festgelegten Zeiten und an genau definierten Orten im Stadion abgelassen werden. Auch in Österreich wird weiterhin illegale Pyrotechnik verwendet, die Zahlen sind aber klar rückläufig.»
In der Schweiz ist das nicht möglich, weil pyrotechnisches Material illegal ist und unter das Sprengstoff-gesetz fällt.
«Ja und dieser Umstand verhindert, dass in der Schweiz über kontrolliertes Ablassen von Pyros überhaupt diskutiert werden kann.»
Sie sind also der Meinung, dass eine Legalisierung helfen würde?
«Ich sage einfach, dass die Problematik von ganz oben angepackt werden muss. Eine repressive Strategie scheint hier wenig erfolgversprechend. Letztlich müsste es sich um eine Lösung handeln, die von grösseren Teilen der Fans mitgetragen wird.»
Was entgegnen Sie einem Familienvater, der mit seinen zwei Kindern an ein Spiel gehen will und dabei Bedenken hat?
«Dass gemäss unseren Erfahrungen die Sicherheit gewährleistet ist. Man muss den normalen Gebrauch von Pyros und den Einsatz als Waffe, etwa bei Fackelwürfen, klar differenzieren. Der überwiegende Teil der Pyros wird nicht abgelassen, um andere Personen im Stadion anzugreifen, sondern um die Fan-Kultur hochleben zu lassen. Und diese Pyros werden in den meisten Fällen in der Schweiz kontrolliert eingesetzt.»
Dieser Grat ist schmal. Ein Gegenstand mit 2000 Grad Temperatur kann statt auf den Rasen auch in den Familiensektor fliegen.
«Ich denke, dass wir hier bei den Fakten bleiben sollten. Das ist in der Schweiz seit etwa zehn Jahren nicht mehr passiert. In anderen Ländern herrschen da ganz andere Verhältnisse.»
In einem nächsten Schritt sprechen die Walliser Behörden von ID-Kontrollen.
«Auch hier erschliesst sich mir der genaue Nutzen noch nicht. Ich weiss aber auch zu wenig über die genaue Zielsetzung der ID-Kontrollen. Wenn es darum gehen sollte, Fans mit einer aktiven Massnahme vom Stadion fernzuhalten, könnte das natürlich als mögliche Strategie betrachtet werden. Gemäss unseren Erkenntnissen werden die Massnahmen wie Stadionverbot oder Rayonverbot von den Fans jedoch eingehalten. In Italien und Holland sind personalisierte Eintrittskarten bereits im Einsatz. Der Erfolg soll überschaubar sein. Klar scheint jedoch, dass die ID-Kontrollen auf grossen Widerstand bei den Fankurven stossen werden.»
Interview: David Taugwalder
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