Ski alpin | Der Fiescher Daniel Albrecht über sein WM-Gold in Are und die Schuldfrage von Kitzbühel, über einen Vatertag mit seiner zweijährigen Tochter Maria und neue Visionen
«Ich drückte nie einen Sprung, ausser an jenem fatalen Tag in Kitzbühel. Den wahren Grund dafür werde ich nie erfahren»

«Die Zukunft hatte mir gehört». Der 35-jährige Daniel Albrecht in seinem Wohnort Fiesch.
Foto: Walliser Bote
Daniel Albrecht, was kommt Ihnen spontan in den Sinn, wenn Sie an die Ski-Weltmeisterschaften 2007 in Are zurückdenken?
«Mein Vater wollte eigentlich nicht nach Schweden. Als ich von zu Hause aufbrach, sagte ich meinen Eltern schade, denn ich würde gewinnen und als Weltmeister zurückkehren. Dann buchten beide und flogen mit.»
Woher diese Überzeugung?
«Als Athlet hatte ich mir bis einen Tag vor dem Rennen immer unrealistische Ziele gesetzt. Ich musste das so machen, damit ich am Ende des Tages das Bestmögliche aus mir herausholte. Am Vortag dann setzte ich mir das realistische Ziel. Und wenn ich dann sagte, ich gewänne, dann durften Sie davon ausgehen, dass ich richtig heiss war.»
In jener Weltcupsaison standen Sie bis zur WM nie auf dem Podest. Und gleichwohl derart euphorisch?
«Ich war schon Vierter gewesen und fuhr nicht immer am Limit, oft mit etwas angezogener Handbremse. Denn ich wollte als junger Fahrer erst mal Resultate und dadurch Weltcuppunkte holen. Die WM war eine ideale Gelegenheit, das alles über Bord zu werfen. Ich sagte mir: ‹Fertig taktiert, jetzt gebe ich mal Gas.› Bereits beim ersten Abfahrts-training waren die Pistenverhältnisse und der Schnee genau so, wie ich es mag. Mein Selbstvertrauen wurde jeden Tag grösser.»
Wir dachten, der Gewinn der Goldmedaille sei der unvergesslichste Moment gewesen.
«Das war irgendwie komisch. Als ich Weltmeister wurde, ging mir durch den Kopf: ‹Das Spiel ist aus. Und jetzt?› Wenn man zehn Jahre auf solch ein Ziel hinarbeitet und es dann auch erreicht, ist das Erlebte auf der Gefühlsebene eine abgeschwächte Version. Zuvor war man das Ganze ja schon tausendmal durchgegangen. Wissen Sie, die Medaille als solche bedeutet mir nicht derart viel, wie man als Aussenstehender meinen könnte. Viel wichtiger für mich war, was sie emotional ausgelöst hat. Wir hatten eine Superstimmung, ich wohnte zusammen mit Marc Berthod und Marco Büchel, es gab Party und wir wollten einfach in jedem Rennen so richtig schnell sein. Das waren schöne Zeiten.»
Im Riesenslalom holten Sie Silber. Wäre Aksel Lund Svindal nicht zu knacken gewesen?
«Doch, hier wäre Gold parat gelegen. Ich lag nach dem ersten Lauf in Führung, einen Übergang im zweiten ging ich mit zu viel Selbstvertrauen an, das war keine gute Idee. Aber ich will nicht klagen, jeder Skirennfahrer sucht immer die Perfektion. Was mich ärgerte, war jedoch etwas ganz anderes.»
Was war das?
«Ich war sehr enttäuscht, dass ich keinen Startplatz für den Super-G bekommen hatte. Der dafür verantwortliche Trainer setzte die Qualifikation einige Tage vor der WM an, die ich gegen Bruno Kernen und Ambrosi Hoffmann nicht bestreiten konnte, weil ich mich auf dem Weg zum Weltcup-Slalom von Schladming befand. Dabei war ich in Topform, und die Piste passte mir perfekt. Ich war sehr wütend. Das fuchst mich heute noch.»
Kernen gewann Bronze, so falsch lagen die Trainer also nicht.
«Ich weiss nur: Für mich hätte alles gestimmt. Im Rennsport muss man jede Chance nutzen, man weiss ja nie, ob es die letzte ist. In meinem Fall war es tatsächlich auch die letzte. Der Cheftrainer hätte die Qualifikation auch in Are durchführen können, aber er wollte anscheinend keinen Stress dort oben. Die haben mich wohl als jungen Träumer gesehen.»
Sie wurden vor zwölf Jahren im schwedischen Are Kombinations-Weltmeister. Bald wird es diesen Titel nicht mehr geben, weil die FIS die Disziplin aus dem Programm nehmen dürfte. Stimmt das den ehemaligen Allrounder Daniel Albrecht traurig?
«Es ist schade, aber eben auch logisch. Es ist nämlich eine Folge des Fortschritts. Zu Beginn der Carvingtechnik war es möglich, bei allen Distanzen und Radien vorne dabei zu sein, vorausgesetzt, man hatte das Gefühl für die Kräfte in den Kurven und bei den Übergängen. Die perfekte Kurve ging sozusagen überall, in allen Disziplinen. Inzwischen hat sich gerade der Slalom derart entwickelt und spezialisiert, dass eine Slalom- und eine Abfahrtskurve zwei komplett verschiedene Sachen sind. Dabei handelt es sich um zwei Spezies. Folglich gibt es nur sehr wenige Athletinnen und Athleten mehr, die beides beherrschen.»
Der 22. Januar 2009 in Kitzbühel hat Ihr Leben komplett verändert. Daniel Albrecht, was genau ist an jenem Tag passiert?
«An jenem Tag kam alles Pech zusammen, das man haben kann.»
Es war nicht bloss Ihr Fehler?
«Wer Abfahrt fährt, der weiss, dass er sein Tun selbst zu verantworten hat. Er selbst ist dafür verantwortlich. Das steht so im Reglement. Aber es war eigentlich ein kleiner Fehler, der grösste Auswirkungen gehabt hat. Es gab Fahrer, die haben schon weit grössere Fehler begangen mit weit kleineren oder keinen Folgen.»
Was genau ist vorgefallen?
«Es war das zweite und letzte Training auf der Streif, ich hatte die Nummer fünf, bei der Zwischenzeit war ich anderthalb Sekunden schneller als der Zweite. Perfekte Linie über den Hausberg, Traverse, Zielschuss, fast 140 km/h, und dann drückte ich den letzten Sprung, etwas, was ich sonst nie machte. Normalerweise fuhr ich über einen Sprung. Weil ich ihn aber drückte, also mit dem Körper tief war, konnte ich die anschliessende Bodenwelle nicht mehr abfedern, dadurch schlug es mich weg. Eine Bodenwelle auf einem Sprung aber ist ein No-Go. Die Welle gibts ja seitdem nicht mehr. Also das Drücken des Sprungs, die Bodenwelle, der Gegenwind, die Landung in flacherem Gelände, da war gefährlich viel zusammengekommen. Wenn es nur schon steileres Gelände gewesen wäre, hätte vielleicht vieles anders ausgesehen.»
Haben Sie heute eine Erklärung dafür, weshalb Sie den Sprung entgegen Ihren Gewohnheiten gedrückt hatten?
«Nein, denn dieser Tag existiert in meinem Leben nicht mehr. Der ist in meiner Gedankenwelt ausgelöscht. Deshalb werde ich den wahren Antrieb nie kennen. Aber es muss einen Grund geben, weshalb ich es getan hatte. Ich muss also etwas annehmen, es gibt bloss Vermutungen, die ich anstellen kann. Ich habe zwei mögliche Erklärungen: Entweder hatte ich über Funk die Botschaft wahrgenommen, dass man den letzten Sprung wegen dem viel höheren Tempo als beim ersten Training drücken solle, damit man nicht zu weit fliegt. Selbst Didier Cuche, ein begnadeter Springer, warnte davor. Oder ich hatte oben im Startgelände die schnelleren Zeiten der anderen gesehen und mich dann dafür entschieden.»
Geben Sie jemandem die Schuld?
«Nein. Niemand anderem.»
Können Sie den Zielhang in Kitzbühel noch anschauen?
«Ich liebte diese Strecke und ich mag sie immer noch. Es wird mir heute noch warm ums Herz. Vielleicht hat das damit zu tun, dass ich keine emotionale Verbindung zu diesem Tag mehr habe, selbst dann nicht, wenn ich mir meinen Unfall im Rückblick anschaue. Null Gefühle, nichts. Ich hatte auf die Saison 2008/09 hin körperlich einen Riesensprung nach vorne gemacht. Bei zwei Rennen wusste ich zum Vornherein, dass ich sie gewinnen werde: den Riesenslalom in Sölden, bei dem ich auch siegte, und die Abfahrt in Kitzbühel. Ich brauchte bloss runterzufahren.»
Sie galten als Grosstalent und Sie waren gerade mal Mitte zwanzig. Haben Sie sich mal gefragt, was passiert wäre, wenn es diesen Unfall nicht gegeben hätte?
«Die Zukunft hätte mir gehört. Im Riesenslalom war ich schneller als alle anderen. Punkt. Und in der Abfahrt und im Super-G war ich nicht langsamer als die Konkurrenz. Dazu war die Doppeldecker-Technik bei Atomic auch meine Technik. Ich hatte bei der Entwicklung grossen Anteil, denn alle sagten, das funktioniere nicht. Ich hingegen war der Überzeugung, dass man schneller ist, wenn man das Ding unter Kontrolle kriegt. Die Erfolge von Carlo Janka auf diesem Ski waren die Bestätigung dafür. Ich war voll überzeugt, dass alles möglich war.»
Das hört sich etwas überheblich an.
«So denke und so funktioniere ich. Wenn du der Weltbeste sein willst, brauchst du Selbstvertrauen, um eigene, neue Wege zu gehen. Ich war aber auch bereit, die Folgen zu tragen, hätte es nicht geklappt.»
Sie entsprachen eigentlich nicht der herkömmlichen Lehre, etwa was die Rotation der Schultern betraf. Matteo Joris, der heutige Herren-Slalomtrainer, sagte kürzlich in Adelboden in einem Interview mit dem «Walliser Boten», er habe Ihre Technik studiert.
«Mein Oberkörper bewegte sich in den Kurven tatsächlich ‹falsch›, aber unten in den Beinen führte das zur richtigen Reaktion. Ich bekam meine Bestätigung betreffend Beschleunigung auch in Gesprächen mit der Schweizer Rennrodlerin Martina Kocher. Auch Bode Miller machte vieles sogenannt falsch. Wenn du es normal machst, bist du sowieso Durchschnitt. Ich wurde in meiner eigenen Technik nie unterstützt, erst nachdem ich schnell geworden war. Aber genau deswegen wurde ich ja schnell. Bis zu meinem Unfall war ich besser als Beat Feuz. Den hatte ich immer im Auge. Marcel Hirscher, Bode Miller, Ted Ligety oder Feuz, solche schrägen Vögel gab es nicht viele im Weltcup.»
Was sagt das über Sie?
«Ich bin heute überzeugt, es sind die starken Gegensätze, die Ecken und Kanten, die mich geformt haben. Ich war Einzelgänger und Teamplayer, ich war Gewinner und Loser, ich war bodenständig und philosophisch, ich war ernsthaft und humorvoll.»
Was war das schlimmste Erlebnis nach Ihrem Unfall?
«Der 21. Platz im Riesenslalom von Beaver Creek. Keiner traute mir nach dem Schädel-Hirn-Trauma und dem dreiwöchigen künstlichen Koma mehr zu, im Weltcup Punkte zu gewinnen. Die Trainer sagten, bereits Top 30 wäre eine Sensation. Für mich war es ein Mordskrampf und -kampf gewesen, überhaupt so weit zurückzukehren. Das können Sie sich gar nicht vorstellen. Der 21. Platz im Dezember 2010 war für mich der grössere Erfolg als der WM-Titel. Aber die Reaktion darauf war nicht so, wie sie hätte sein müssen.»
Was hatte das für Folgen?
«Ich kam von meinem Weg ab, ich verlor mein Ruder. Ich hatte jede Sekunde das Bestmögliche getan, um so weit zu kommen. Und dann waren die Trainer nach diesem 21. Rang der Meinung, dass ich keine weiteren Weltcuprennen mehr fahren und eine Pause einlegen solle. Es war das erste Mal in meiner Karriere, dass ich dachte, ich sähe es nicht mehr richtig und könne das Ganze nicht mehr richtig einschätzen.»
Für die Trainer war solch ein Fall aber doch auch neu.
«Ich denke, sie hatten Angst um mich. Sie waren überfordert mit meiner Art und Einstellung. Wissen Sie, es ist das Schwierigste, einem Athleten gesundes Selbstvertrauen zu geben. Bei mir war das angeboren. Doch nun dachte ich, ich könne es nicht mehr. Ich war gebrochen. Das war im Nachhinein mein grösster Fehler. Spitzensport war für mich immer ein Spiel und Spass gewesen. Ich bin als Mensch ein Spielertyp. Doch ab jenem Zeitpunkt wurde alles nur noch ein Kampf.»
Sie denken tatsächlich, Sie hätten noch bessere Resultate fahren können?
«Das weiss man alles nicht. Heute bin ich zufrieden, dass ich mit dem Sport positiv habe aufhören können.»
Spüren Sie im Alltag noch Folgen des Sturzes?
«Ich werde schneller müde. Ich gebe unter dem Titel ‹Never give up› fünf, sechs Vorträge im Jahr. Es fiel mir schon früher schwer, längere Reden auswendig zu lernen. Aber seit dem Unfall kostet es mich noch mehr Kraft. Früher war ich im Flow, die Energie floss, heute muss ich alles bewusster machen. Dadurch werde ich schneller müde. Und wenn ich müde bin, fühle ich mich schneller unter Druck, werde ungeduldig oder verwechsle Namen und Begriffe. Ich sehe zwar Blau, sage aber Rot. Ich sehe zwar einen Elefanten, sage aber Dinosaurier.»
Merken Sie das?
«Wenn die Leute die Augen verdrehen, dann ja.»
Gibt es Sachen, die Sie heute besser machen können oder schlechter?
«Die Sachen, die ich schon zuvor schlecht konnte, sind schlechter, die Sachen, bei denen ich gut war, sind besser geworden. Das hat vielleicht damit zu tun, dass ich alles wie ein Kind lernen musste, in meinem Fall ein zweites Mal. Dadurch habe ich mich besser kennengelernt, mich sozusagen geschärft.
Wovor haben Sie Angst im Leben?
«Vor gar nichts mehr. Etwas kann immer passieren im Leben eines Menschen, die entscheidende Frage ist: Wie gehe ich damit um? Es geht darum, eine Lösung für dich zu finden. Das ist meine Lehre aus dem Unfall.»
Sie waren als Sportler ein Mensch, der immer eigene, unrealistische Wege gegangen war. Zum Beispiel schon früh mit der Kreation der eigenen Skikleidermarke «Albright», die Sie inzwischen an Ochsner Sport verkauft haben. Gibt es neue Visionen?
«Die Erfahrungen an der Ski-WM in Are haben mich gelehrt, dass man sein eigenes Ziel selbst erschaffen und erreichen kann. Ich hatte immer den Wunsch, ein eigenes Haus zu bauen. Also fragte ich mich: ‹Wo hast du es am schönsten gehabt?› Die Antwort: In einer Hütte in Norwegen war es richtig lustig, dort fühlte ich mich am wohlsten. Studien sagen ja, das menschliche Herz schlage in Holzhäusern langsamer. Nach dem Unfall benötige ich immer noch viel Ruhe. Und so entstand die Idee mit dem Mondhaus. Das ist mein neues Projekt und ich bin wieder überzeugt, es ist unrealistisch, aber es wird ein Erfolg. Es gibt bald vier in der Schweiz, das erste haben meine Frau Kerstin und ich hier in Fiesch für uns gebaut.»
Was ist ein Mondhaus?
«Alles unbehandeltes Walliser Holz, kein Leim, keine künstliche Isolation, keine Farben, natürlich und umweltschonend. Dafür nutzen wir einheimisches Mondholz. Nach dieser Lehre sind bloss einzelne Tage im Spätherbst und Winter zum Fällen geeignet. Im Grunde genommen kombinieren wir uraltes Holzbauwissen mit modernster Fertigungstechnik.»
Gibt es den Skitrainer Daniel Albrecht eines Tages? Die Ausbildung dazu haben Sie ja abgeschlossen.
«Ich war zuletzt an den Rennen in Adelboden und Kitzbühel und muss sagen, man ist schnell wieder drin. Ich hätte das Wissen, wie man erfolgreich sein kann. Würde ich mich bei Swiss-Ski bewerben, ich bekäme einen Job. Denn Trainer sind ja gesucht. Ich schliesse das eines Tages nicht aus, aber aktuell sind die Weichen anders gestellt. Alles, was Karl Frehsner mir früher gesagt hatte, stimmte. Zum Trainerjob meinte er: ‹Dani, hast du die Energie, zuerst zehn Jahre den ’Lööli’ zu spielen?›.»
Als ich Sie an einem Sonntag für unseren Interviewtermin gesucht hatte, waren Sie nicht erreichbar und sagten am Montag, Sie hätten Vatertag gehabt. Wie sieht ein solcher eigentlich aus?
«Am Sonntag bin ich hundertprozentig für meine Tochter da. Was dazugehört: Am Morgen laufen wir mit den beiden Hunden in die Bäckerei und kaufen Brot für den Brunch. Am Nachmittag gehen wir schwimmen. Schwimmen mit dem Papa ist aktuell gerade sehr gefragt.»
Interview: Roman Lareida
Roman Lareida
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