Endo Anaconda | Abschiedstournee mit «Stiller Has»
«Mein Dämon hockt immer noch in der Ecke. Aber er ist alt geworden»

Abschiedstournee. Endo Anacondas Wortgewalt wird sich weiterhin ihre Wege bahnen.
Foto: mengis media / Alain Amherd
Ein letztes Album, eine letzte Tournee, dann wird er wieder Anfänger sein; wie schon so oft in seinem Leben
«Ich denke, es ist Zeit, aus dem Pop-Musenalpexpress auszusteigen und den Nachtzug zu nehmen», sagt Endo Anaconda. Das sechzehnte und letzte «Stiller Has»-Album «Pfadfinder» erschien am 6. März 2020. Bis Ende Dezember 2021 ist die legendäre Band noch einmal auf Tournee durch die Schweiz, Österreich und Deutschland. Dann ist Schluss. «Meine Lust an der Kreativität werde ich nicht unterdrücken. Aber es wird eine andere Form geben», sagt das musikalische Schwergewicht.
Die Ankündigung von Endo Anacondas Rückzug schlug ein wie eine Bombe. Die Schweizer Musikszene ist rar an Charakterköpfen und Ausnahmekönnern. Die Swiss Music Awards drehen sich schon lange im Kreis. Immer wieder tauchen dieselben Namen auf den Preisträgerlisten auf. Und jetzt verlässt ein Herausragender, einer, der mit dem gängigen Mundart-Kitsch ungefähr so viel zu tun hat wie ein Sandhaufen mit dem Matterhorn, diese kleine Welt. Und alle stürzen sich auf ihn. Es gibt weniges von Endo Anacondas Leben, das in den letzten Wochen nicht medial ausgebreitet wurde. Vom frühen Tod seines Vaters war zu lesen und von der Flucht seiner Mutter nach Österreich. Seine schwierigen Kinder- und Jugendjahre unter der Knute von prügelnden katholischen Pfaffen im Internat in Kärnten – alles wurde gesagt und geschrieben. Die dicken Schlagzeilen aber galten seiner Alkohol- und Drogensucht: Sein Heroinrückfall mit 55 und der jahrelange Alkoholmissbrauch wurden regelrecht ausgewalzt.
Dabei machte Andreas Flückiger, wie Endo Anaconda mit bürgerlichem Namen heisst, nie einen Hehl aus seinem Dämon. Der Barde staunt, dass die Suchtthematik dermassen aufgeblasen wird. «Ich war immer wahrhaftig. Ich sage, was ist. Wer bei meinen Texten genauer hingehört hat, wusste doch schon längst, dass ich gesoffen habe.» Schon vor 24 Jahren sang er: «I han e Moudi – das heisst, de Moudi, de het mi!/I han e Moudi u de isch äs gfährlechs Tier…» Damit war nicht bloss sein schwarzer Kater gemeint. Was ist aus seinem Dämon geworden, jetzt, da er abstinent lebt? «Mein ‹Moudi› hockt immer noch in seiner Ecke. Da bleibt er auch; aber er kratzt mich nicht mehr so arg wie früher. Auch er ist älter geworden.»
Mit seiner Suchtvergangenheit sei er nicht alleine. Seine Geschichte wäre doch Anlass, das Thema auf der gesellschaftspolitischen Ebene abzuhandeln: Wie sieht es aus mit Alkoholismus im Journalismus? Was ist los mit Ärzten, die ohne Beruhigungsmittel kein Skalpell führen können? Warum steigt die Zahl der Studierenden, die ohne Ritalin keine Prüfungen schaffen? «Ich war zu lange in dieser Szene, da macht mir keiner mehr etwas vor. Die Problematik zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten», ist der 64-Jährige überzeugt.
Die Schweiz sei ein kleines Paradies, aber wahnsinnig stressig und dieser Druck schleisse schon mal Menschen. «Die Schweizer mögen keine unangenehmen Themen. Hier hat man es lieber heimelig. Wir haben Fixerstüblis, Alki-Stüblis, Walliser Stüblis, Ständeratsstübli – Stüblis ohne Ende und wenn nicht, haben wir für alles ein ‹Maschineli›», sagt Endo Anaconda und bricht in brachiales Lachen aus.
Zurück auf Feld eins
Endo Anacondas Leben ist gezeichnet von Brüchen. Musiker, die «Stiller Has» verliessen, Beziehungen, die zu Ende gingen – und immer und immer wieder: der Neuanfang. Er sei ein Fachmann als Anfänger, sagt er. In einem seiner neuen Lieder, «Chräie», singt er: «Alles wo i gliebt ha/ha i vertriebe/nume d Chräie/si mer bliebe».
«Als Mensch ist man eigentlich ein Dubel. Man kann gar nicht alles richtig machen, alles wissen und alles kennen. Aber im Unterschied zum Depp ist der Dubel lernfähig. Dadurch ist er schon weniger ein Dubel. Aber kaum ist der Mensch kein Dubel mehr, kommt die nächste Situation, in der er sich aufführt wie ein Dubel, und so muss er zurück auf Feld eins und wieder von Neuem zu lernen beginnen.»
Er holt aus: «Wer sich mit meinen Liedtexten befasst, interessiert sich für die Tragikomödie der menschlichen Existenz. All dieses Scheitern – das betrifft jeden. Glamour und Berühmtheit sind nur Scheinwelten. Das wahre Leben ist nichts für Feiglinge. Da geht es rauf und runter, und zwar für alle.» Seine Texte schaffen es, Zuhörende mit der unerträglichen Lächerlichkeit des humanen Daseins zu versöhnen. Keiner singt Wortzeilen so wie er. Es ist ein Grummeln, ein Brüllen, ein virtuoses Singen und niemand, der seine Stimme je zu Ohren bekam, wird sie wieder vergessen. Beim Sprechen reisst er manchmal die Augen weit auf. Und da ist ein seltsamer Widerspruch im Blick: Sein rechtes Auge scheint dann in einen Abgrund zu blicken, während sein linkes Sanftmut verheisst.
Er freut sich, noch einmal auf Tour zu gehen und ein letztes Mal im «Wallisellen-Kreisel» zu drehen. Im Gepäck hat er sein letztes Album «Pfadfinder», nichts weniger als sein Vermächtnis. Der Sänger beschäftigt sich mit Innen- und Aussenwelten. «Pfadfinder» ist den rebellierenden Jugendlichen gewidmet. Mit «Niemer» führt er eine vor lauter virtuellen Netzwerken vereinsamende Gesellschaft vor. Wer kann eine unglückliche Liebe melancholischer beschreiben als Endo Anaconda? «Alles drüber – alles drunger/Hin u här u ja u nei/I warte uf e Summer/Es isch April un no nid Mai».
Wortgewaltig
Seine Wortgewalt wird sich weiterhin ihre Wege bahnen. Ausufernd zeigt sie sich manchmal im Gespräch. Kryptisch, dicht, präzise in seinen Gedichten, die es zu dechiffrieren lohnt. Dem Dichten wird er sich nach dem Tournee-Ende im Dezember 2021 widmen. Im Winter wird Zeit dafür sein: Im Moment will er dann leben, lesen und Gedichte schreiben.
Pragmatisch sagt er: «Alles hat einen Anfang und alles hat ein Ende – auch das menschliche Leben. Die Mortalitätsrate beträgt nun mal 100 Prozent. Das ist leider so.» Aber jetzt freue er sich auf seine letzte grosse Tournee: ein Abschied, ein Dankeschön an das Publikum soll es werden. «In Visp haben wir noch nie gespielt.» Und wieder wird er Anfänger sein. Dieses Mal auf der La-Poste-Bühne…
Nathalie Benelli
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