Freizeit | Der Pilgerführer Rhein-Reuss-Rhone zeigt die Sakrallandschaft von Disentis bis St-Maurice
«Wandern, das sind geistige Ferien»

Wandersmann. «Wir haben zwar einen wirtschaftlichen Rückstand, aber ein Kulturerbe, auf das wir stolz sein können», sagt Peter Salzmann.
Foto: WB / Alain Amherd
Visp | Die Skischuhe sind verstaut, bald beginnt die Wanderzeit. Der Wanderleiter Peter Salzmann redet über das Hamsterrad und die Faszination des Pilgerns.
Peter Salzmann, wonach suchen Sie beim Wandern?
«Nach den schönen und aussergewöhnlichen Dingen. Ich bewege mich vor allem in der Schweiz und im benachbarten Ausland. Auch viele Einheimische kennen viele wunderschöne Orte nicht. Ich bin stolz auf unsere Landschaft. Und deshalb möchte ich das Schöne und Aussergewöhnliche anderen Menschen weitergeben.»
Steht bei Ihnen die Kultur oder die Natur im Vordergrund?
«Das kann ich nicht mehr sagen. Als ich anfing, war es sicher die Natur. Ich habe lange im Tourismus gearbeitet, dann das La Poste geleitet. Seither interessiert mich immer stärker auch die kulturelle Dimension.»
Vom stressigen Marketingjob wechselten Sie zum Wanderleiter. Weshalb dieser harte Bruch?
«Als Werber hatte ich in Genf ein grosses Budget. Opel war damals die Nummer 1 in der Schweiz. Und ich hatte 25 Millionen zur Verfügung. Dann kamen verschiedene Jobs im Oberwallis. Lange Zeit hatte ich die Energie für die Geschäftswelt. Irgendwann fragte ich mich: Was ist das ganze wert?»
Und dann?
«Ich habe gekündigt. Ich wusste damals nicht, wie es weitergehen sollte. Dann habe ich das Wallis vom Genfersee bis zum Rhonegletscher erwandert in 20 Tagen. Ich habe gedacht, ich bekomme die Erleuchtung. Auf dem Rhonegletscher hatte ich Tränen in den Augen, weil das Schöne nun vorbei war. Dann entschied ich mich, Wanderleiter zu werden.»
Sie haben ein Buch zum Pilgerweg zwischen St-Maurice und Disentis geschrieben und durften den Weg im letzten Sommer eröffnen. Wie waren die Reaktionen?
«Ich hatte in Chur einen Vortrag und da waren mehrere Leute, die den Weg gemacht hatten. Aber auch im Welschland war der Pilgerweg von Anfang an ein Thema. Und jetzt mit der französischen Ausgabe erst recht. Im Oberwallis selber ist es nur in den Pilgerkreisen ein Thema.»
Wie wichtig ist die Religion heute beim Pilgern?
«Viele der Pilger sind nicht religiös. Viele machen es wegen der körperlichen Leistung. Ich mache es auch nicht aus religiösen Gründen. Für mich ist die Kulturgeschichte und die Heiligengeschichte wichtig. Von Brig bis nach Disentis haben wir eine herrliche Barocklandschaft. Sie ist sehr üppig.»
Weshalb?
«Die Reformierten steckten ihre Kraft in die Wirtschaft. Hier investierte man alles in die Religion. Die Calvinisten haben sechs, sieben Feiertage pro Jahr. Hier hatte man bis zu 70 Feiertage. Hier lebte man in einer Angst, nicht in den Himmel zu kommen. Man zahlte Geld, ging in die Messe, statt zu arbeiten. Das ist unser Erbe. Wir haben zwar einen wirtschaftlichen Rückstand, aber ein Kulturerbe, auf das wir stolz sein können.»
Reden Sie von den unzähligen Kapellen?
«In 100 Jahren hat man im Oberwallis 150 Kapellen gebaut. Bis der päpstliche Nuntius Stopp gesagt hat. Man musste sie ja nicht nur bauen, sondern auch unterhalten.»
Heute verkündet der Jakobsweg praktisch jedes Jahr einen Pilgerrekord. Warum?
«In unserer Wirtschaft ist der tägliche Kampf im Hamsterrad sehr präsent. Aus diesem Hamsterrad rauszukommen und eine körperliche Leistung zu machen, ist für die meisten der Hauptgrund.»
Die Religiosität nimmt ab, die Pilger nehmen zu.
«1980 gab es in Santiago de Compostela 180 Ankünfte. Von den über 300 000, die im letzten Jahr dort angekommen sind, sind mehr als die Hälfte nicht religiös. Es ist ein Sinnweg. Der ganze Jakobsweg wurde als Wirtschaftsprojekt aufgezogen. 2005 sagte Hape Kerkeling: ‹Ich bin dann mal weg.› Es gab verschiedene Filme. Der Jakobsweg wurde zu einem riesigen Hype.»
Die Leute sind im Hamsterrad an ihrer Grenze. Auf dem Pilgerweg erleben sie wieder eine Grenzerfahrung. Wieso tauscht man zwölf Stunden im Büro gegen zwölf Stunden Wandern am Tag?
«Was man im Hamsterrad macht, macht man ja nicht für sich. Man erledigt Aufgaben für andere. Beim Pilgern ist man plötzlich auf sich selbst bezogen. Am Morgen muss man schauen, dass man genug Wasser hat. Und am Abend, dass man ein Bett findet. Von den äusseren Umständen wird man plötzlich zu seinem eigenen Feind. Man muss seinen eigenen Sauhund überwinden.»
Von einer Entfremdung plötzlich nur noch sich selber sehen – das kann eine schwierige Umstellung sein.
«Die meisten haben das Gefühl, dass sie das nicht schaffen. Zum Beispiel die Tour Monte Rosa. Das sind sechs, sieben Stunden, 1500 Höhenmeter. Leute, die sonst nicht viel wandern, denken, dass sie das niemals schaffen. Und plötzlich merken sie, dass es geht. Sie bekommen ein neues Körpergefühl, eine andere mentale Stärke.»
Denken Sie während des Wanderns?
«Das Ziel ist es, den Alltag auszuschalten. Bin ich zwei Tage unterwegs, habe ich die Berge von Papier auf dem Bürotisch vergessen. Man ist einfach da. Da, um zu erleben. Wandern, das sind geistige Ferien.»
Was bedeutet die Ankunft nach einer Pilgerreise?
«Ich habe zwei Mal die Strecke Spiez–Varallo mit Gruppen gemacht. Zehn Tage am Stück zu wandern, war für die Leute eine spezielle Erfahrung. Das Ankommen war ein grosses Wow, wir haben es geschafft. Am Schluss flossen Tränen. Das Ziel war in Sacro Monte. Im 17. Und 18. Jahrhundert war es das Ziel für viele Walliser, einmal im Leben dorthin zu gehen. Dort wird das Leben Jesu mit 600 lebensgrossen Statuen und 40 Kapellen dargestellt. Das war ein unglaubliches Erlebnis.»
Nach 15 Jahren als Wanderleiter – was lockt Sie heute auf die Wanderwege?
«In jedem Jahr nehme ich einen oder zwei neue Wanderwege in mein Programm auf. Die ganze Komplexität interessiert mich sehr. Schaut man in die Welt, sieht man drei Dimensionen. Der Wanderleiter soll eine weitere Dimension eröffnen. Er erzählt von der Geschichte, von den Pflanzen und Tieren. Das ist ein hoher Anspruch an mich selber. Man muss sich in ein Gebiet einarbeiten und das Herz finden.»
Goethe sagte einst: «Was ich nicht erlernt habe, das habe ich erwandert.» Passt das zu Ihnen?
«Goethe war ein Weitwanderer. Auf meinen Wegen begegne ich ihm immer wieder. Goethe machte drei Italien-Reisen, er war drei Mal auf dem Gotthard. Er wanderte im November-Schnee über die Furka. Er schrieb in Leukerbad Texte über die Entwicklungen der Wolken. Er lernte viel beim Wandern. Und ich als Wanderleiter auch.»
Interview: Mathias Gottet
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