Frontal | Sitten / Visp

«Bei der Sozialhilfe im Wallis muss dringend gespart werden»

Paul Burgener, Präsident der sozialmedizinischen Zentren im Oberwallis.
1/2

Paul Burgener, Präsident der sozialmedizinischen Zentren im Oberwallis.
Foto: RZ

Paul Burgener: «Visp hat im letzten Jahr 1,8 Millionen für ­Sozialhilfe ausgegeben.»
2/2

Paul Burgener: «Visp hat im letzten Jahr 1,8 Millionen für ­Sozialhilfe ausgegeben.»
Foto: RZ

Quelle: RZ 2

Die Kosten bei der Sozialhilfe sind in den letzten drei Jahren explodiert. Der Kanton muss darum Einsparungen machen. Der Präsident der sozialmedizinischen Zentren im Oberwallis, Paul Burgener, dessen Verein für die Umsetzung und den Zuspruch der Sozialhilfe verantwortlich ist, nimmt Stellung.

Paul Burgener, im vergangenen Jahr wurden im Wallis 44 Millionen Franken für die Sozialhilfe ausgegeben. Vor drei Jahren war es noch knapp die Hälfte. Es muss gespart werden, oder?
Es steht ausser Frage, dass etwas passieren muss. Das sehen auch wir von den sozialmedizinischen Zentren SMZ so. Wenn man den Anstieg der Kosten betrachtet, so muss man sagen: «So kann es nicht weitergehen.»

Wie konnte es denn überhaupt so weit kommen? Wird im Wallis mit der Sozialhilfe um sich geworfen?
Keineswegs. Die Sozialhilferate im Wallis ist sehr tief. Nach dem Kanton Graubünden bezahlen wir am wenigsten Sozialhilfe aller Schweizer Kantone. Hauptgrund für den Anstieg ist die Veränderung in der Struktur der sozialen Netze in der Schweiz. Die Sozialhilfe ist das letzte dieser Netze, nach uns kommt nichts mehr. Nun ist es so, dass die vorerst infrage kommenden Netze wie die IV und die Arbeitslosenkasse ihre Leistungen in den letzten Jahren sehr stark zurückgeschraubt haben. Was passiert also mit jemandem, der keine IV-Rente erhält, aber trotzdem nicht arbeiten kann? Er beantragt Sozialhilfe. Gleiches gilt für Menschen, die längerfristig keine Arbeit finden. Daher der massive Anstieg der Kosten. Dazu kommen noch gesellschaftliche Phänomene.

Die da wären?
Ich meine damit die Familienstrukturen, vor allem die Scheidungsraten. Kommt es in einer Familie zu einer Scheidung, müssen plötzlich zwei Haushalte ­finanziert werden. Hat die Frau noch dazu kleine Kinder, wird es für sie kaum zumutbar, einer Vollzeitarbeit nachzugehen. Dann bleibt ihr kaum mehr etwas anderes übrig als der Weg aufs Sozialamt.

Das Walliser Parlament hat zwei Kommissionen beauftragt, die Kosten der Sozialhilfe zu analysieren. Die jetzt vorliegenden Berichte zeigen, dass die Kosten im Oberwallis nur moderat gestiegen sind, im Vergleich zum Rest des Kantons. Wie kommt das?
Es muss festgehalten werden, dass die Bevölkerung im Oberwallis viel weniger stark gewachsen ist, als die im Unterwallis. Entsprechend musste hier auch weniger Sozialhilfe ausbezahlt werden. Aber auch im Oberwallis ist die Zunahme sehr unterschiedlich.

«Die Dynamik, die Visp erlebt hat, hat auch ihre Schattenseiten»

Können Sie das ausführen?
Nehmen wir die Zahlen von den grösseren Gemeinden im Oberwallis. In Brig-Glis ist der Betrag für Sozialhilfeleistungen in den letzten Jahren gesunken. In Visp dagegen um über 40 Prozent gestiegen. Grund dafür ist der rasante Bevölkerungsanstieg in Visp. Die Dynamik, die Visp in den letzten Jahren erlebt hat, hat auch ihre Schattenseiten. In den grossen Talgemeinden ist es zunehmend möglich, in der Anonymität zu versinken. Das ist natürlich für jemanden, der Sozialhilfe benötigt, viel attraktiver, als ein Bergdorf, wo jeder jeden kennt. Wir erleben, dass manche Menschen sich bewusst im Tal niederlassen, wenn sie Sozialhilfe beantragen wollen.

Ist es in Visp also leichter an Sozialhilfe zu kommen?
Nein, sicher nicht. Die Kriterien dafür, ob man Sozialhilfe erhält, sind im Kanton überall die gleichen. Wenn jemand einen Antrag auf Sozialhilfe stellt, wird dieser durch unsere Sozialarbeiterinnen bearbeitet. In Visp landen die Dossiers in der Folge bei mir als zuständiger Gemeinderat. Gemeinsam mit der Teamleiterin treffen wir die Entscheidung, ob wir Sozialhilfe zusprechen und in welchem Ausmass. Viermal im Jahr legen wir der Sozialhilfekommission Rechenschaft ab. In einem Bergdorf werden die Anträge aber vom gesamten Gemeinderat beurteilt. Weil da jeder jeden kennt, ist der Antrag auf Sozialhilfe für die Gesuchsteller beschwerlicher. Umso grösser das Dorf, umso kleiner ist die gesellschaftliche Ächtung. Das spüren die Sozialhilfeempfänger.

Wie viel gibt denn Visp für Sozialhilfe aus? (Die Kosten für Sozialhilfe werden zu 70 Prozent vom Kanton und 30 Prozent von den Gemeinden getragen – Anm. der Redaktion)
Im letzten Jahr hat Visp 1,8 Millionen für Sozialhilfe ausgegeben. 2010 war es noch rund eine Million. Auch wir haben einen enormen Anstieg erlebt.

Ein nicht zu unterschätzender Betrag.
In der Tat, das ist viel Geld. In Visp haben wir mehr als 100 Sozialhilfeempfänger Es gibt aber kleine Bergdörfer, die keine Bezüger haben und trotzdem bezahlen müssen. Das führt zu einem gewissen Unmut.

Verständlich. Warum diese Regel?
Der Gemeindeanteil für die Sozialhilfe wird nach einem Schlüssel auf alle Gemeinden verteilt, auch wenn bei ihnen keine Sozialhilfeempfänger gemeldet sind. Wir sprechen dabei von einem Solidaritätsbeitrag. So will man dem Effekt entgegenwirken, dass die finanzielle Belastung allein von den Agglomerationen getragen wird und dem Sozialhilfetourismus Vorschub geleistet wird.

Nun heisst es seitens des Grossen Rates, dass 15 Millionen Franken im Bereich Sozialhilfe pro Jahr eingespart werden sollen. Ist das realistisch?
Eine Redimensionierung ist nötig. Das Sparziel, das herausgegeben wurde, ist aber sehr ehrgeizig und birgt gewisse Risiken.

«Visp hat im letzten Jahr 1,8 Millionen für ­Sozialhilfe ausgegeben»

Risiken?
Eine lineare Kürzung, wie es von gewissen Seiten vorgeschlagen wurde, ist aus meiner Sicht unhaltbar. Man verkennt die einzelnen Situationen der Bezüger, wenn man so etwas verlangt. Sparen mit dem Breitschwert ist nicht angebracht und nicht zielführend. Wir müssen punktuelle Massnahmen ergreifen, die die Kosten senken, das System Sozialhilfe aber nicht aushöhlen.

Die grossrätlichen Kommissionen haben mehrere Sparmöglichkeiten aufgezeigt. Vor allem bei den jungen Erwachsenen zwischen 18 und 25 Jahren soll kräftig gespart werden. Sie sollen nur noch die Nothilfe von 500 Franken statt den Grundbedarf für den Lebensunterhalt von 986 Franken pro Monat erhalten. Ist das eine sinnvolle Massnahme?
Ich denke ja. Wir müssen mit allen Mitteln verhindern, dass die Sozialhilfe für junge Menschen attraktiver ist, als eine Lehre zu absolvieren oder einer ­Arbeit nachzugehen. Wenn ein junger Mensch nach der Schule plötzlich mehr als 900 Franken im Monat zur Verfügung hat und auch noch die Miete und die Krankenkasse bezahlt bekommt, dann kann ein solcher Betrag einen falschen Reiz ausüben. Für diese jungen Menschen, wie auch für die anderen Empfänger von Sozialhilfe, ist es von unserer Seite das grosse Ziel, dass sie wieder in den ersten Arbeitsmarkt eingegliedert werden.

Ein anderer Punkt ist der Umgang mit Ausländern, die Sozialhilfe bekommen. Diese sollen schneller das Land verlassen müssen. Für Sie in Ordnung?
Fast 50 Prozent aller Sozialhilfebezüger sind Ausländer mit den entsprechenden Aufenthaltsbewilligungen. Es ist sicher richtig, dass man überprüft, ob man die Aufenthaltsbewilligungen von ausländischen Sozialhilfeempfängern verlängern will. Aber wir müssen auch hier sehr genau hinschauen und nicht einfach einen Grobschlag vollziehen.

Wenn das Parlament im September über die Sparmassnahmen berät, wird sicher auch das Thema Missbrauch aufkommen. Wie stehen Sie dazu?
Die grosse Mehrheit aller Fälle, in denen ­Sozialhilfe bezahlt wird, ist absolut unbestritten. Die Sozial­arbeitenden schauen sehr genau hin und reizen ­jede noch so kleine Möglichkeit aus, um die Kosten im Griff zu behalten. Jedes Sozialhilfedossier wird minutiös analysiert, es werden alle Möglichkeiten wie die Verwandtenunterstützung abgeklärt, bevor ­bezahlt wird.

«Das Sparziel ist sehr ehrgeizig und birgt gewisse Risiken»

Was den Missbrauch der Sozialhilfe betrifft, so kommt dieser vor, gleich wie es Steuerhinterzieher gibt. Wollen wir noch genauer kontrollieren, brauchen wir mehr Personal und das kostet wiederum. Um einem Sozialhilfeempfänger beispielsweise Schwarzarbeit nachweisen zu können, kann dies zu einem Kampf gegen Windmühlen werden. Dazu haben wir schlicht und einfach die personellen Kapazitäten nicht.

Gibt es einen Punkt, der Ihnen in Ihrem Amt als zuständiger Gemeinderat für «Soziales und Gesundheit» besonders Mühe bereitet?
Es gibt Mitbürgerinnen und Mitbürger, die sich sehr lieblos über die Vergabe der Sozialhilfe äussern. Würde ich nicht dem Amtsgeheimnis unterstehen, würde ich sie gerne zu den Besprechungen mit den Bittstellern einladen. Viele Gesuche bergen persönliche Schicksale, haben einen tragischen Hintergrund und alle Verantwortlichen in unseren Diensten versuchen, diese Mitmenschen aufzufangen und sie in ihrer Lage zu unterstützen. Besonders, wenn Kinder mitbetroffen sind, sind wir gefordert, ansonsten geraten diese in einen Teufelskreis.

Martin Meul

Artikel

Infos

Zur Person

Vorname Paul
Name Burgener
Geburtsdatum 3. Juli 1953
Familie verheiratet, zwei Kinder
Beruf Präsident SMZ Oberwallis
Hobbies Rebbau, Fussball

Nachgehakt

Viele Politiker haben keine Ahnung von Sozialhilfe. Ja
Ich könnte ohne Probleme von Sozialhilfe leben. Nein
Sozialhilfe vermittelt eine trügerische Sicherheit. Joker
Der Joker darf nur einmal gezogen werden.  

Artikel

Kommentare

  • martin - 102

    Immer das selbe! Bei Gesundheit, Sozialem und Bildung wird zuerst gespart, während andererseits der Bund mal wieder hunderte Millionen für Rüstung verbratet!

  • Visper - 76

    Schon ziemlich viel Geld, das Visp da ausgeben muss. Ein paar Jaher keine solchen Kosten und die neue Eishalle ist bezahlt

Kommentar

schreiben

Loggen Sie sich ein, um Kommentare schreiben zu können.

zum Login

Sitemap

Impressum

MENGIS GRUPPE

Pomonastrasse 12
3930 Visp
Tel. +41 (0)27 948 30 30
Fax. +41 (0)27 948 30 31