Frontal | Sexualtherapeutin Anke Schüffler

«Ein Mann wurde von seiner 40 Jahre älteren Chefin missbraucht»

Vergewaltigungen und Missbräuche stehen dieser Tage im Fokus der Öffentlichkeit
1/3

Vergewaltigungen und Missbräuche stehen dieser Tage im Fokus der Öffentlichkeit
Foto: Symbolbild M.E./pixelio.de

Anke Schüffler: «Jungen haben teilweise mehr Mühe, einen Übergriff zu verarbeiten.»
2/3

Anke Schüffler: «Jungen haben teilweise mehr Mühe, einen Übergriff zu verarbeiten.»
Foto: zvg

«Bei Sexualstraftaten stehen häufig Gewalt und Macht im Vordergrund», sagt Anke Schüffler.
3/3

«Bei Sexualstraftaten stehen häufig Gewalt und Macht im Vordergrund», sagt Anke Schüffler.
Foto: zvg

Quelle: RZ 1

Sexualtherapeutin Anke Schüffler betreut sowohl Opfer wie auch Täter nach sexuellen Übergriffen. Im Interview spricht sie über die Bedeutung von Strafen bei Übergriffen, die Forderung nach Kastration und «Mitschuld» der Opfer.

Anke Schüffler, kürzlich wurde bekannt, ein Drittel aller verurteilten Vergewaltiger kommt mit einer bedingten Gefängnisstrafe davon, muss also nicht ins Gefängnis. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie so etwas hören?
Ein gewisses Unverständnis und Empörung sind da. Vor allem wenn man sieht, was eine Vergewaltigung oder ein Missbrauch für Konsequenzen für die Opfer hat. Die Opfer haben mit diesen einschneidenden Erlebnissen zum Teil ihr ganzes Leben lang zu kämpfen. Viele Täter kommen mit einer bedingten Haftstrafe oder einer Geldstrafe davon. Damit habe ich Mühe, denn in solchen Fällen steht die Strafe für den Täter in keinem Verhältnis zum Leid, das das Opfer ertragen musste und muss. Wenn zum Beispiel für ein Steuervergehen härtere Strafen als für einen Missbrauch oder gar eine Vergewaltigung ausgesprochen werden, macht mich das sehr nachdenklich.

Sie sprechen die Konsequenzen für die Opfer an. Mit was für Problemen haben diese, aus Ihrer Erfahrung heraus, zu kämpfen?
Es ist sehr unterschiedlich. Manche Frauen können einen sexuellen Übergriff recht gut verarbeiten, andere fallen schlicht ins Bodenlose. Das Selbstwertgefühl ist gestört, sie haben Scham- und Schuldgefühle. Es kann zu Ängsten, Depressionen, Suchtverhalten, Selbstmordgedanken, Persönlichkeitsstörungen u.v.m. kommen. Vielfach ist die Beziehungsfähigkeit massiv beeinträchtigt. Manche Frauen entwickeln Hassgefühle gegenüber Männern. Andere Frauen haben nach einem Übergriff ein gestörtes Verhältnis zu ihrer Sexualität, prostituieren sich gar. Dann können auch Schmerzen im Intimbereich auftreten und, und, und. Studien haben gezeigt, dass eine Vergewaltigung, was die Intensität des Einschnitts im Leben betrifft, mit dem Überleben einer Naturkatastrophe oder einer Geiselnahme gleichzusetzen ist. Entsprechend vielseitig sind die Reaktionen auf diese Erlebnisse.

Gibt es Unterschiede dabei, wie Kinder und Erwachsene auf Übergriffe reagieren?
Manche Kinder sind teilweise in der Lage, das Ereignis zu verdrängen oder abzuspalten. Sie erleben es dann so, als ob es nie passiert wäre. Und das kann spätere Folgen nach sich ziehen. Bei anderen zeigen sich sofort Symptome. Bei Erwachsenen ist diese Fähigkeit zu verdrängen weniger ausgeprägt, weshalb die Reaktionen unmittelbarer erfolgen können. Aber egal in welchem Alter, ein Übergriff ist immer sehr schlimm und Reaktionen in verschiedenen Formen gibt es bei allen Opfern.

«Jungen haben teilweise mehr Mühe, einen Übergriff zu verarbeiten»

Bei Kindesmissbrauch sind Mädchen und Jungen betroffen. Wie sieht es hier bezüglich Verarbeitung des Ereignisses aus?
Das kann auch sehr unterschiedlich sein, teilweise haben Jungen aber mehr Mühe, einen Übergriff zu verarbeiten.

Woran liegt das?
An den unwillkürlichen körperlichen Reaktionen. Jungen und Männer kennen die ungewollten Erektionen, kennen das «Nicht-steuern-Können», weil es ein reiner Reflex ist. Auch wenn sich alles im Jungen gegen diese Reaktion sträubt, Abneigung und Ekelgefühle aufkommen, kann es dennoch zur sexuellen Erregung, zu einer Erektion kommen. Das wird dann von Tätern manchmal als Argument benutzt, dass die sexuelle Handlung dem Jungen gefällt. Dadurch kann sich das Schuld- und Schamgefühl des Kindes maximieren. Gleichzeitig kann der Junge in seiner sexuellen Orientierung und Identität verunsichert werden. Das macht die Verarbeitung des Erlebnisses schwerer. Es ist aber zu betonen, dass die körperliche Reaktion des Jungen nie ein Hinweis darauf ist, dass es ihm gefällt. Für das Kind ist es so, als müsste es sich dagegen wehren, dass es eine Gänsehaut bekommt, was unmöglich ist.

Schuldgefühle der Opfer sind bei sexuellen Übergriffen ein grosses Thema. Welche Rolle spielt die Verurteilung und Bestrafung der Täter dabei?
Eine sehr wichtige. Täter müssen adäquat zur Rechenschaft gezogen und bestraft werden. Die Justiz muss mit ihrem Urteil und dem Strafmass dem Opfer klar vermitteln: «Der Täter ist schuldig, er trägt die Verantwortung und wird auch dementsprechend bestraft.» Dabei spielt die Art und Höhe der Strafe eine grosse Rolle, weshalb milde Urteile, wie eine Geldstrafe, aus meiner Sicht sehr problematisch sind. Bestraft die Justiz den Täter nicht mit der nötigen Verhältnismässigkeit und Härte, kann beim Opfer das Gefühl einer Mitschuld zurückbleiben, was unter keinen Umständen geschehen darf, denn das Opfer ist nie mitschuldig

Dennoch wird dies den Opfern immer wieder vorgeworfen.
Ja, und das ist grundlegend falsch. Das Opfer ist das Opfer, eine Frage nach einer Mitschuld darf nie aufkommen. Das Problem ist, dass teilweise Mitschuld mit problematischen Situationen und Verhaltensweisen verwechselt wird. Die Täter suchen sich zum Teil Frauen, die sie für leichte Opfer halten. Wenn eine Frau zum Beispiel, vollkommen unverschuldet, den Eindruck vermittelt, ein vermeintlich leichtes Opfer zu sein, weil sie vielleicht offenere Kleidung trägt oder ihre Körperhaltung ein eher schwaches Selbstbewusstsein suggeriert, so kann sie tatsächlich leichter ins Visier eines Täters geraten. Aber eine Mitschuld trifft sie deshalb nicht! Und das muss die Justiz in ihren Urteilen klar festhalten.

Sie helfen den Opfern, Übergriffe zu verarbeiten. Worauf kommt es dabei an?
Das hängt davon ab, welche Auswirkungen der Übergriff auf das Opfer hat und was die Opfer selber erreichen wollen. Vielfach geht es darum, das zerstörte Vertrauen in sich selbst und die Umwelt wiederherzustellen. Dann aber muss man auch mit dem Opfer erarbeiten, dass es keine Mitschuld an dem Vorfall hat. Wichtig ist, dass man auf die einzigartige Situation der Opfer eingeht. Es aber bei diesem Eingehen nicht übertreibt.

Was meinen Sie mit übertreiben?
Wenn man als Therapeutin zu stark nachfragt oder drängt, empfinden manche Opfer dies als erneuten Übergriff und ziehen sich zurück, man muss da das nötige Fingerspitzengefühl haben. Das ist aber nicht die einzige Schwierigkeit in der Therapie. Wichtig ist auch, dass man Distanz zwischen Therapeut und Opfer wahrt, damit man professionell arbeiten kann. Und dann muss man sich auch abgrenzen, denn sonst läuft man Gefahr, am Leid der Betroffenen selbst kaputt zu gehen, was niemandem hilft.

Kamen die Opfer, denen Sie geholfen haben oder helfen, denn von sich aus zu Ihnen?
Sie kamen nicht und sagten: «Frau Schüffler, helfen Sie mir, ich wurde missbraucht.» Meistens kommen sie, weil sie nicht in der Lage sind, längerfristig eine Beziehung zu führen oder andere Probleme in ihren Beziehungen haben. Erst im Verlauf der Gespräche stellt sich heraus, dass diesen Problemen ein Missbrauch oder eine Vergewaltigung zugrunde liegt. Dann kann man sich dem aktuellen Anliegen widmen. Die Scham und Schuldgefühle verhindern oft, dass die Opfer von Übergriffen das Problem direkt ansprechen. Ich rate aber jedem, der so etwas erlebt hat, zumindest den Versuch zu wagen und sich jemandem zu öffnen.

Wechseln wir nun die Seiten. Für die Bewährungshilfe des Kantons Wallis betreuen Sie auch Täter. Ist das nicht ein Widerspruch?
Überhaupt nicht, im Gegenteil. Zu Anfang wurde ich auch von meinem Umfeld darauf angesprochen. Man fragte mich, wie ich diesen Verbrechern helfen könne. Die Antwort ist ganz einfach: Indem ich verhindere, dass ein Täter rückfällig wird, schütze ich mögliche zukünftige Opfer von ihm. Tätertherapie ist Opferschutz.

Es werden immer wieder Stimmen laut, die sagen, dass man mit den Therapien den Tätern viel zu viel Aufmerksamkeit widmen würde. Was sagen Sie dazu?
Das stimmt so nicht und ist auch gefährlich. Ziel einer Therapie ist Rückfälle zu vermeiden und Täter neues Verhalten zu lehren. Wenn man einen Sexualstraftäter nur inhaftiert und ihn nicht therapiert, kann er gefährlicher herauskommen, als er reingegangen ist. Man hat festgestellt, dass therapierte Täter weniger rückfällig wurden als nicht therapierte. Es wäre gut, schon in der Haftzeit mit einer adäquaten Therapie zu beginnen. Therapiert man nicht, so können sie u.a. mit grösserem Aggressionspotenzial freikommen. Da nützt auch die immer wieder geforderte chemische Kastration nichts.

«Da nützt auch die chemische Kastration nichts»

Warum nicht?
Bei Sexualstraftaten stehen häufig die Gewalt und Macht im Vordergrund. Sie drücken ihre Gefühle durch sexualisierte Gewalttaten aus. Manche fordern, den Täter chemisch zu kastrieren, sprich ihn impotent zu machen. Jedoch nimmt man ihm damit nicht die Fantasien. Und häufig treiben gerade diese Fantasien diese Menschen an. Nimmt man ihnen dann mit der Kastration ihre Männlichkeit, ihre Erektionsfähigkeit, können sie dadurch noch aggressiver werden. Es gibt andere Möglichkeiten, mit Tätern zu arbeiten.

Die da wären?
Missbraucher oder Vergewaltiger haben ein Problem, ihre Impulse zu steuern und Gefühle zu kontrollieren. Sie wissen, dass ihr Verhalten illegal ist, dennoch ist es für sie zum Teil legitim. Zum einen ist ihre Bereitschaft gefordert, an und in der Therapie mitzuarbeiten. In den Sitzungen geht es dann darum, ihnen aufzuzeigen, wie sich ein Missbrauch aufbaut, welche Situationen gefährlich sind, wo Grenzen sind und was Trigger sind, sprich das Ganze ins Rollen bringt und ab wann sie die Grenze überschreiten. Man arbeitet an ihrem Aggressionspotenzial, an Kontrolle, an Gefühlen. Es ist wichtig, dass sie sich gut kennenlernen und sich selber besser verstehen. Man muss diesen Menschen klarmachen, dass sie gefährlich sind, denn das verdrängen sie häufig. Dann muss man ihnen aber auch aufzeigen, welche Konsequenzen ihr Handeln für die Opfer hat, lernen, Empathie für die Opfer zu entwickeln.

Kann man jeden Sexualstraftäter therapieren?
Nein. In gewissen Fällen sind die psychischen Defizite und Persönlichkeitsstörungen so gross, dass man diese Menschen lebenslang verwahren muss.

Wir haben viel über männliche Täter gesprochen. Hatten Sie auch schon mit weiblichen Sexualstraftätern zu tun?
Es gab den Fall einer Frau, die zwar nicht straffällig geworden ist, die aber gemerkt hat, dass sie sich zu kleinen Jungen hingezogen fühlte und Angst hatte, übergriffig zu werden. Ich hatte es aber auch schon mit männlichen Opfern von Sexualstraftäterinnen zu tun. Ein Mann wurde als Jugendlicher von seiner 40 Jahre älteren Chefin missbraucht. Es gibt also auch weibliche Sexualstraftäter, das ist Fakt.

Verspüren Sie manchmal Angst, wenn Sie jemandem gegenübersitzen, von dem Sie wissen, dass ihn Gewalt gegenüber Frauen erregt?
Ich habe immer Respekt und bin sehr konzentriert. Dadurch, dass ich weiss, was dieser Mensch getan hat, kann ich eher Situationen kontrollieren und lenken. Zumindest viel stärker als wenn ich einer Person in einer dunklen Gasse begegne. Es ist aber schon vorgekommen, dass ich Anfragen für eine Therapie abgewiesen habe, da ich fand, dass das Profil dieser Menschen meine Möglichkeiten übersteigt und dass eine stationäre Therapie in einer speziellen Einrichtung die bessere Lösung ist.

Martin Meul

Artikel

Infos

Vorname Anke
Name Schüffler
Geburtsdatum 25. April 1967
Familie verheiratet
Beruf Sexualtherapeutin
Hobbies Lesen, Wandern, Reisen
Die Strafen für Sexualdelikte sind zu lasch. Ja
Auch Frauen missbrauchen. Ja
Eine bedingte Strafe bei Vergewaltigung ist ein Schlag ins Gesicht des Opfers. Ja
   

Artikel

Kommentare

  • Reto Schmidt, Hufschmied - 160

    Das eine solch reife Chefin so etwas fertig bringt ist schrecklich. Der arme Kerl. Ich hoffe sehr, er wird wieder!

Kommentar

schreiben

Loggen Sie sich ein, um Kommentare schreiben zu können.

zum Login

Sitemap

Impressum

MENGIS GRUPPE

Pomonastrasse 12
3930 Visp
Tel. +41 (0)27 948 30 30
Fax. +41 (0)27 948 30 31