Interview | Mit der Heimleitung des Kinder- und Jugendwohnheims «Mattini»

«Einzelne Kinder werden Heiligabend bei uns verbringen müssen»

«Eine Fremdplatzierung ist eines der letzten Mittel», Raphael Jossen
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«Eine Fremdplatzierung ist eines der letzten Mittel», Raphael Jossen
Foto: RZ

«Einzelne Kinder werden  Heiligabend bei uns verbringen müssen», Stéphanie Bovet
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«Einzelne Kinder werden Heiligabend bei uns verbringen müssen», Stéphanie Bovet
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Das Kinder- und Jugendheim «Mattini» ist eine Anlaufstelle für junge Menschen in schwierigen Lebenssituationen. Im Interview sprechen Raphael Jossen und Stéphanie Bovet von der Heimleitung über ihren Arbeitsalltag, Konfliktsituationen und Weihnachten in einem Kinder- und Jugendheim.

Raphael Jossen, über das Kinder- und Jugendheim «Mattini» gibt es viele Vorurteile. Man hört von einem «Hotel für Schwererziehbare», ein halbes Jugendgefängnis sei Ihre Einrichtung. Wie würden Sie Ihre Einrichtung als Heimleiter beschreiben?

Jossen: Wir bieten Wohnplätze für Kinder und Jugendliche zwischen sieben und 18 Jahren an, die sich in einer komplexen Lebenssituation befinden.

Was versteht man unter einer komplexen Lebenssituation?

Jossen: Unsere Bewohnerinnen und Bewohner müssen in ihrem Leben mit einer grossen Belastung umgehen. Diese Belastung kann durch das familiäre Umfeld hervorgerufen werden oder persönlicher Natur sein, zum Beispiel durch psychische Probleme. Zu uns kommen die Kinder dann, wenn die aktuelle familiäre Situation einer weiteren positiven Entwicklung des Kindes im Wege steht, oder aber wenn die persönliche Belastung des Kindes oder des Jugendlichen so gross ist, dass diese in der Familie vorübergehend nicht mehr getragen werden kann. Zudem bestehen oft auch belastende Faktoren in der schulischen Situation oder auch im Freundeskreis. Eine einfache Ursache-Wirkungs-Kette gibt es nicht und die Suche nach Schuldigen ist wenig zielführend.

Wie viele Kinder und Jugendliche betreuen Sie aktuell in den «Mattini»?

Jossen: Derzeit sind es 13. Maximal können wir 15 Kinder und Jugendliche aufnehmen, die Auslastung ist also hoch. Zusätzlich verfügen wir über einen reservierten Platz für familiäre Notfallsituationen.

Einige Leute haben sicher gewisse Vorurteile, was die Herkunft Ihrer Bewohner angeht. Ich sage mal: männlich, kriminell vorbelastet, Migrationshintergrund. Wie sieht die Realität aus?

Jossen: Das ist definitiv ein Vorurteil. Beispielsweise ist das Verhältnis der Geschlechter ziemlich ausgeglichen. Auch was die ethnische Herkunft angeht, lässt sich kein Trend feststellen. Es gibt Phasen, in denen fast ausschliesslich Kinder und Jugendliche aus Walliser Familien bei uns untergebracht sind. Dann wiederum Zeiten, in denen Bewohner mit Migrationshintergrund in der Überzahl sind.

Wie sieht es aus mit dem Alter Ihrer Bewohnerinnen und Bewohner?

Jossen: Auch hier lässt sich kein allgemeiner Trend feststellen. Mal haben wir mehr Jugendliche, dann wieder mehr Kinder. Derzeit haben wir Kinder und Jugendliche zwischen 8 und 19 Jahren. Die Altersstruktur ist derzeit ziemlich gleichmässig verteilt.

Wie läuft der Prozess ab, wenn ein Kind oder ein Jugendlicher bei Ihnen platziert wird?

Jossen: In der Regel steht am Anfang eine Gefährdungsmeldung zuhanden der Kesb oder die Eltern melden sich mit der Bitte um Unterstützung. Anschliessend klärt das Amt für Kindesschutz ab, ob eine Fremdplatzierung erforderlich ist. Meistens handelt es sich um einen längeren Prozess, bei dem vorgängig schon andere Massnahmen versucht wurden, wie zum Beispiel eine sozialpädagogische Familienbegleitung. Eine Fremdplatzierung ist eigentlich eines der letzten Mittel, um eine Situation in den Griff zu bekommen.

Gibt es denn auch Notfälle, wo man ein Kind sofort aus seinem familiären Umfeld herausholen muss?

Jossen: Ja, die gibt es. Deshalb halten wir auch immer einen Notfallplatz frei. Gründe für eine solche Notfallplatzierung können zum Beispiel häusliche Gewalt sein oder wenn Jugendliche nicht mehr nach Hause gehen wollen, weil die Spannungen daheim dermassen gross sind.

Stéphanie Bovet, Sie leiten eine der beiden Wohngruppen hier im «Mattini». Ein Kind wurde also bei Ihnen platziert. Wie sieht anschliessend sein Alltag aus?

Bovet: Zunächst einmal werden zusammen mit den Eltern und den Behörden die Ziele des Aufenthalts geklärt. Woran und wie will man arbeiten, sind dann Fragen, die gestellt werden. Dann erhält das Kind oder der Jugendliche eine Bezugsperson, die den gesamten Aufenthalt pädagogisch begleitet und aus Sicht des «Mattini» koordiniert. Was den Alltag betrifft, so gehen die Kinder in der Regel in die öffentliche Schule, einige ältere Jugendliche machen eine Lehre.

Das füllt aber nur einen Teil des Tages. Was läuft während der restlichen Zeit?

Bovet: Am Morgen starten wir mit einem gemeinsamen Frühstück, wie zu Hause auch. Dann gehen unsere Bewohner eben zur Schule oder in den Lehrbetrieb. Manche von ihnen kommen mittags zum Essen, andere essen zu Hause oder an einem Mittagstisch. Dies ist abhängig von der jeweiligen örtlichen und familiären Situation. Am Abend werden die acht Kinder und Jugendlichen auf ihren Wohngruppen dann von jeweils zwei bis drei Sozialpädagogen betreut. Sie helfen zum Beispiel bei den Hausaufgaben, wobei sie bei Bedarf noch zusätzlich von einer Lehrperson unterstützt werden. Es gibt Abendessen und die Kinder und Jugendlichen haben Zeit, ihren Hobbys nachzugehen, oder sie beschäftigen sich hier im Wohnheim. Unser Ziel ist, möglichst viel Normalität in den Alltag zu bringen.

Dennoch, bei Ihnen treffen die unterschiedlichsten Persönlichkeiten mit den unterschiedlichsten, nicht immer einfachen Vorgeschichten aufeinander. Gibt es nicht ständig Konflikte unter den Bewohnern?

Bovet: Es ist sicher nicht ganz einfach für unsere Bewohnerinnen und Bewohner. Wie Sie sagen, müssen sich die jungen Leute mit einer Situation arrangieren, die sie nicht selbst gewählt haben. Um die Konflikte, die es sicher gibt, zu minimieren, arbeiten wir nicht nur einzeln mit den Bewohnern an ihren Themen, sondern setzen auch stark auf die Arbeit mit der Gruppe, um die anspruchsvolle Wohnsituation besser gestalten zu können.

Wie sieht es mit Konflikten zwischen den Kindern und Jugendlichen und den Betreuungspersonen, also Ihnen, aus?

Jossen: Wir versuchen, dass wir mit den Kindern und Jugendlichen in einer konstruktiven Beziehung stehen. Wie in allen Familien bedeutet das eine tägliche Arbeit. Natürlich gibt es Konflikte mit dem Personal. Ist ein Kind mit seiner Lebenssituation unzufrieden, kann es schon sein, dass dies Auswirkungen auf die Stimmung auf der Wohngruppe hat. Oder wir treffen Entscheidungen für das Kind, welche dieses ablehnt, so kann es schon zu Ablehnung kommen. Wir versuchen deshalb die Kinder und Jugendlichen in die Entscheidungen miteinzubeziehen, um eine möglichst grosse Akzeptanz zu erzielen, behalten aber die Führung. Das ist unsere Strategie. Mehrheitlich klappt die Zusammenarbeit sehr gut, aber es kann vorkommen, dass es schwierig wird. Zum Beispiel, wenn die Eltern nicht hinter der Platzierung stehen und daher Druck auf das Kind ausüben, sodass dieses in einen Loyalitätskonflikt gerät.

Bovet: Wichtig ist daher, dass wir auch die Eltern stark in unsere Arbeit einbinden. Wir pflegen einen regelmässigen Austausch mit ihnen und sprechen die Massnahmen so gut es geht mit ihnen ab. Mehrheitlich sind die Eltern daher auch dankbar für unsere Arbeit. Denn schliesslich wollen wir und die Eltern, dass es dem Kind oder Jugendlichen gut geht und sich das Kind gut entwickeln kann.

Sie sind eine offene Institution, es gibt also keine verschlossenen Türen. Kommt es vor, dass Kinder oder Jugendliche dermassen unzufrieden mit der Situation sind, dass sie weglaufen?

Jossen: Ja, das kommt vor, wenn auch selten. Weglaufen ist ein Ausdruck davon, dass die Belastungsgrenze für das Kind oder den Jugendlichen erreicht ist. Dies muss aber nicht zwingend mit der Wohnsituation im «Mattini» zu tun haben. Für uns heisst das, dass wir uns intensiv mit den Gründen auseinandersetzen müssen, damit wir den Leidensdruck schnellstmöglich verringern können. Diese Klärung erfolgt im Austausch mit dem Jugendlichen, den Eltern und den involvierten Fachpersonen.

Die Weihnachtstage stehen vor der Tür. Gerade dann wird besonders viel Wert auf Familie und so weiter gelegt. Bei Ihren Bewohnern läuft es hingegen zu Hause nicht so rund. Sind die Festtage daher eine besondere Herausforderung für Sie?

Bovet: Weihnachten gehört zu unserer Kultur und es gibt deshalb in unserer Institution verschiedene Anlässe zu Festtagen, wie einen Nikolausabend, das «Schutzengelspiel» sowie ein vorgezogenes Weihnachtsfest mit allen Kindern und Mitarbeitenden. Wir spüren, dass die Kinder und Jugendlichen in dieser Zeit ganz besonders unsere Nähe suchen. Das zeigt, dass es für sie nicht eine leichte Zeit ist. Daher thematisieren wir Weihnachten auch besonders mit ihnen. Dann ist es uns natürlich wichtig, dass unsere Bewohner ihre Familien an Weihnachten besuchen können und wenn möglich einige Tage bei ihrer Familie verbringen können. Leider funktioniert das nicht für alle. Einzelne Kinder werden Heiligabend daher, zumindest teilweise, bei uns verbringen müssen.

Ein Aufenthalt bei Ihnen soll für die Kinder und Jugendlichen ja nicht ewig dauern. Wie ist das Gefühl, wenn einer Ihrer Bewohner Sie verlässt und wieder zurück zu seiner Familie geht?

Bovet: Der Austritt wird intensiv vorbereitet. Die Besuche bei der Familie werden sukzessive verlängert und intensiviert. Daher ist es ja nicht so, dass ein Kind heute noch hier ist und morgen nicht mehr. Daher können wir die jungen Leute in vielen Fällen mit einem sehr guten Gewissen gehen lassen, weil wir wissen, dass sich die Situation signifikant verbessert hat.

Jossen: Es gibt aber auch Fälle, in denen die Platzierung bei uns sowohl von uns als auch von den Behörden als nicht mehr zielführend erachtet wird, man aber weiss, dass die Probleme, welche zur Platzierung geführt haben, weiterhin bestehen. Solche Momente sind dann für uns schon ziemlich belastend. Zum Glück handelt es sich dabei um Ausnahmen.

Martin Meul

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Infos

Zur Person

Vorname Raphael
Name Jossen
Geburtsdatum 13. Dezember 1975
Familie verheiratet, zwei Kinder
Beruf Betriebswirt, Sozialpädagoge
Funktion Heimleiter «Mattini»
Hobbies Langlaufen, Skifahren,
Jodeln

Zur Person

Vorname Stéphanie
Name Bovet
Geburtsdatum 22. Juli 1987
Familie verheiratet
Beruf Sozialpädagogin
Funktion stv. Heimleiterin «Mattini»
Hobbies Yoga, Guggenmusik, Skifahren, Reisen

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