Kolumne | Diese Woche zum Thema

«Was hat es mit den Gelben Westen auf sich?»

Peter Bodenmann und Oskar Freysinger schreiben in der Rhonezeitung.
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Peter Bodenmann und Oskar Freysinger schreiben in der Rhonezeitung.
Foto: Mengis Media

Quelle: RZ 0

Was steckt hinter den Demos der gelben Westen in Frankreich? Der ehemalige SP-Schweiz-Präsident und Hotelier Peter Bodenmann und Alt-Staatsrat und Schriftsteller Oskar Freysinger im Wortgefecht.

Peter Bodenmann, ehemaliger SP-Schweiz-Präsident und Hotelier

Freysinger ist wirtschaftspolitisch ein Macron

Wirtschaftspolitisch stehen sich in Europa heute zwei Positionen gegenüber. Die Neoliberalen und ihre Parteien wollen den Anteil der Löhne und der Renten am Volkseinkommen senken. Damit die Gewinne steigen. Und so mehr investiert wird.

Anderer Meinung sind die Keynesianer aller Schattierungen. Für sie muss die Kaufkraft der Massen steigen. Weil nur so jene Nachfrage entsteht, die es braucht, damit alle, die arbeiten wollen, einen Arbeitsplatz finden.

In Frankreich unterstützen die fremdenfeindliche Le Pen und der linke alt Trotzkist Mélenchon die Aufständischen. Rechts angereichert mit Fremdenhass. Links mit Hass auf das System.

«Vor zehn Tagen: Gliser Gilets Jaunes stoppten unsoziale SVP»

Ihre Antworten müssten europäische sein. Auch weil 75 Prozent der Franzosen am Euro festhalten wollen:

Baustein 1: Frankreich müsste zusammen mit Italien die Maastrichter Kriterien wegputzen. Und ein grosses soziales Programm für den schnellen ökologischen Umbau anschieben.

Baustein 2: Frankreich sollte seine Reichen wieder stärker belasten, um die Haushalte mit kleinen und mittleren Einkommen zu ent­lasten. Und die Renten und ­Mindestlöhne erhöhen.

Baustein 3: Wer die Diesel- und Benzinpreise erhöht, müsste das so eingenommene Geld allen Haushalten sozial- und regionalverträglich zurückerstatten.

Macron gab nur in Details nach. Der Mindestlohn wird um 100 Euro erhöht. Die Erhöhung der Diesel- und Benzinpreise wurde um ein Jahr verschoben.

In der Schweiz ist alles anders. Erstens kam es dank der Gewerkschaften und der Linken nicht zu einem vergleichbaren Sozialabbau. Und zweitens ist in der Schweiz die fremdenfeindliche Rechte – im Gegensatz zu Frankreich und ­Österreich – neoliberal. Konkreter: Im Wallis strich das Trio Freysinger, Cina und Tornay die Subventionen für die Krankenkassen zusammen. Viele Walliser Haushalte können Ende Monat wegen unseren Macronisten ihre Rechnungen fast nicht mehr bezahlen.

Gleiches Bild in Brig: Ursprung, Hildbrand und Co. erhöhen laufend die Gebühren. Zuerst beim Wasser und Abwasser. Jetzt wollten sie für Bioabfälle mehr verlangen. Die ­Gliser Gilets Jaunes haben die Briger SVP vor zehn Tagen an der Urversammlung gestoppt. Chapeau.

Nachtrag: Viele fragten mich, was eine neue Kantonsverfassung mit meinen bifazialen Solarzellen zu tun habe? Verdammt viel. Alpine Freiflächenanlagen sind die Walliser Cash-Maschinen des 21. Jahrhunderts. Nach 30 Jahren müssen diese Anlagen heimfallen. An alle Walliserinnen und Walliser. Damit es uns nicht gleich ergeht wie bei der Wasserkraft, wo wir nichts zu sagen haben.


Oskar Freysinger, ehemaliger SVP-Staatsrat und Schriftsteller

Was es mit den gelben Westen auf sich hat

Es gab weder globale Krise noch Börsenkrach. Weder Rezession noch Hyperinflation. Es bewegte sich eigentlich nichts. Und trotzdem strömten in Frankreich plötzlich Hunderttausende mit gelben Westen aus dem Nichts auf die Strassen und rebellierten. Das Land befindet sich seitdem in einem Ausnahmezustand. Der Präsident versteckt sich hinter Polizeimacht, Wasserwerfern und Tränengas, wie weiland Ludwig der XVI. hinter seiner Schweizergarde. Was ist geschehen?

Ausgelöst wurde die Rebellion durch eine geplante Erhöhung des Brennstoffpreises. Doch eigentlich steckt viel mehr dahinter.

«Ist die Brotschnitte bei vielen zu dünn, dann wächst bei einigen die Butterschicht»

Zuerst das präsidiale, ultra-zentralistische System Frankreichs. Es ist im Kern immer noch durch den Geist des Sonnenkönigs und des ­Jakobinismus geprägt. Die ­Peripherie ist nichts, das Zentrum ist alles und schützt sich durch ein ausuferndes Vasallensystem. Zudem ist das starke Präsidialsystem von De Gaulle für den Riesen De Gaulle geschaffen worden, nicht für die schrumpfenden Zwerge, die ihm seither gefolgt sind. Es ist wie mit einer russischen Puppe: Immer, wenn man meint, die kleinste Puppe gefunden zu haben, liegt eine noch kleinere darin, bis zuletzt nichts mehr bleibt. Höchstens Tränen, wie beim Zwiebelschälen.

Gelobt sei da der Schweizer ­Föderalismus, in dem die Macht flächendeckend aufgeteilt ist und dadurch das Gefälle zwischen Stadt und Land, Zentrum und Peripherie, Volk und Eliten strukturell verringert.

Dann ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass ein Leben «wie Gott in Frankreich» mit einem Monatslohn von 1150 Euro in unerschwingliche Fernen gerückt ist. Nicht, weil die Löhne gesunken sind, sondern weil das Leben durch die unbegrenzte Einwanderung massiv verteuert wurde. Was wenigen höhere Boni beschert, schnürt der schwindenden Mittelklasse die Luft ab. Die globale, neoliberal geprägte Wirtschaft schafft einen Graben zwischen den realen Lebensbedingungen und der ­Chimäre eines planetarischen Wohlstands, den sich in Wirklichkeit nur wenige leisten können.

In der Grande Nation, welche die höchste Abgabenquote Europas und zugleich einen extrem aufgeblähten Staatsapparat hat, der seine Dienstleistungen ständig abbaut, sind die Gilets Jaunes nicht aus Prinzip gegen Steuern und Abgaben, sie sind nur gegen den Verschleiss ihres hart erarbeiteten Geldes. Sie verwerfen eine Energiewende, die auf dem Buckel der proletarisierten Mittelklasse verwirklicht werden soll und rebellieren gegen die sinkende Kaufkraft, welche die steigende Zahl der Arbeitssklaven zwingt, von der Hand in den Mund zu leben.

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