Interview | Wegen Diskriminierung entlassen – das Leben von Natalie Urwyler ist zu einem Präzedenzfall geworden
«Bei einigen Männern muss man das Altersheim abwarten»

Sie will verändern. «Ich war überzeugt, dass Frauen alles erreichen können», sagt Natalie Urwyler. «Das ist aber noch heute eine Illusion.»
Foto: Olivier Lovey
Natalie Urwyler engagierte sich für den Mutterschutz am Inselspital Bern. Dafür bekam sie die Kündigung. Die Ärztin ging vor Gericht. Und konnte beweisen, dass sie wegen ihres Geschlechts diskriminiert wurde.
Natalie Urwyler, wann haben Sie zum ersten Mal eine Ungleichheit zwischen den Geschlechtern gespürt?
«Ich habe schon in der Vorschulzeit erfahren, dass es Unterschiede gibt. Man hat mir zugerufen: ‹Mädchen klettern nicht auf Bäume!› Das hat mich sehr gestört. Ich habe sehr gerne draussen gespielt, das war mein Ding. In der Schule, da mussten wir lernen, zu stricken und zu kochen. Und die Buben durften sägen. Das Technische wäre mir aber viel besser gelegen. Das fand ich bereits damals ungerecht.»
Als die Frauen im Jahr 1991 zum ersten Mal streikten, waren Sie Schülerin im Gymnasium. Wie erinnern Sie sich an diesen Tag?
«Wir durften damals nicht streiken, hatten aber den ganzen Tag viel Raum, um intensiv über die Themen zu diskutieren. Es war ein sehr bunter Tag. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit und gleiche Rechte waren damals bereits die wichtigsten Themen. Heute geht es also um fast das Gleiche wie damals.»
Sie studierten an der Universität Bern Medizin. Haben Sie bereits als Studentin Diskriminierungserfahrung gemacht?
«Ich erinnere mich an einen Moment: Der Professor, ein älterer Herr, schaute ins Auditorium und sagte: ‹Ich sehe hier viel zu viele Frauen – werden Sie schwanger!› Dass man solche Äusserungen in den 1990er-Jahren noch machen durfte, hat mich brüskiert. Es hat mich als Frau beleidigt.»
Haben Sie ihn darauf angesprochen?
«Wir haben uns im Kollektiv aufgeregt, haben aber nichts gemacht. Der Professor war so konservativ, ich glaube nicht, dass er irgendetwas begriffen hätte. Bei einigen Männern kann man das Denken nicht verändern, man muss einfach das Altersheim abwarten.»
Mussten Sie nach dem Studium, als junge Assistenzärztin, mehr leisten als die Männer, damit Sie akzeptiert wurden?
«Zweifellos. Es reicht nicht einmal, mehr zu leisten. Man muss sich auch noch etablieren. Als ich auf die 40 ging, sagte mir der Chef des Inselspitals: ‹Ich sehe keine Frauen in Führungspositionen.› Wenn das erste Beförderungskriterium das männliche Geschlecht ist, dann kommt man als Frau an einen Punkt, bei dem man sich an der gläsernen Decke den Kopf blutig schlägt.»
Die Leistung und Kompetenz der Frauen führen also nicht überall zum Erfolg?
«Nein, ich habe es im Inselspital selber erlebt. Ich hatte alles: Mit 40 Jahren war ich habilitiert, war an der Weltspitze-Universität Stanford, hatte viel Erfahrung. Aber als Frau führen Leistung und Fachkompetenz nicht immer zum Erfolg. Aus wirtschaftlicher Sicht dürfte hier das Geschlecht keine Rolle spielen. Ich war überzeugt, dass Frauen – wenn sie fleissig sind und wirklich wollen – alles erreichen können. Das ist aber noch heute eine Illusion.»
Dann hat Ihnen das Inselspital auch noch gekündigt.
«Ja. Wir hatten im Inselspital ein massives Problem mit dem Mutterschutz. Schwangere Frauen haben bis zu 80 Stunden in der Woche gearbeitet. Dabei sind schwangere Frauen per Gesetz geschützt. Einige Frauen und ich haben uns dafür eingesetzt. Heute arbeitet von diesen Frauen keine mehr im Inselspital. Mir hat man den unbefristeten Vertrag einfach gekündigt.»
Ihre steile Karriere war danach ruiniert?
«Sie wollten nicht nur meine Karriere ausbremsen, sondern mir auch einen Neuanfang verwehren. Die Kündigung habe ich zunächst noch geschluckt. Das Inselspital hat sich dann aber bei anderen Spitälern gemeldet und ihnen gesagt, dass sie mich nicht einstellen sollen, weil ich ein ganz schwieriger Mensch sei. Da hat es mir gereicht. Ich sagte mir: ‹So Giele, jetzt ist genug!›»
Sie zogen das Inselspital vor Gericht.
«Während zwei bis drei Monaten habe ich alle Evidenz für die Diskriminierung zusammengestellt. Ich habe dem Gericht drei Bundesordner Beweismaterial übergeben. Es waren ein aufwendiger Prozess und lange Jahre. Ohne meinen Anwalt und ohne meine Familie hätte ich die Zeit nicht überstanden. Und zum Schluss verurteilte das Gericht das Inselspital wegen einer diskriminierenden Rachekündigung gemäss Gleichstellungsartikel.»
War die Verurteilung für Sie eine Erlösung?
«Für mich selber ändert es nicht mehr viel. Ich kann meine Forschung nicht mehr vorantreiben, meine Karriere ist blockiert. Das Urteil ist aber ein Präzedenzurteil. Zum ersten Mal konnte eine Frau in einem Prozess gegen einen Konzern zeigen, dass sie wegen ihres Geschlechts diskriminiert wird. Das hat Konsequenzen für die Zukunft. Ich hoffe, dass sie das, was sie mit mir gemacht haben, in Zukunft mit keiner anderen Frau mehr machen werden. Ich hoffe, dass sie modernere Familienbilder zulassen. Und ich hoffe, dass sie den Männern mehr Atem lassen, damit sie ihren sozialen Verpflichtungen nachgehen können. Denn die Gleichstellung ist kein Krieg zwischen Mann und Frau. Es ist ein Krieg zwischen vorgestern und heute.»
Der grösste Teil der Fürsorge-Verpflichtungen wird immer noch von den Frauen übernommen. Was muss sich da ändern?
«Heute ist es immer noch so, dass unentgeltliche Dinge zulasten der Frauen gehen. Diese Arbeit ist da, wir müssen sie machen. Sonst kollabiert unsere Gesellschaft. In den meisten Fällen wird diese Arbeit ungefragt auf die Schultern der Frauen gelegt. Mit Ausnahme von der Schwangerschaft, dem Gebären und dem Stillen kann ein Mann alles auch selber erledigen. Die Aufgaben können also problemlos geteilt werden.»
Ein Vater muss beim Kind sein, um zu einem Vater zu werden.
«Du kannst einem Kind das grösste Pack LEGO schenken, es wird dich nicht lieben. Das Kind liebt dich erst, wenn du mit ihm LEGO spielst. Die Rolle des Mannes als Geldbeschaffer ist auch nicht so einfach. Im Jahr 2016 haben doppelt so viele Männer Suizid begangen wie Frauen. Vielleicht ist es also sinnvoller, wenn wir die Aufgaben aufteilen, sodass jeder ein Berufsleben und ein Sozialleben hat.»
Oft hört man, dass man ab einer gewissen Position nicht mehr in Teilzeit arbeiten kann. Stimmt das?
«Das glaub ich nicht. Das ist Blabla. Ein Mensch kann konzentriert acht Stunden viel leisten, zehn Stunden gut leisten. Alles was nachher kommt, ist Show. Das Hirn kann einfach nicht mehr. Ich arbeite als leitende Ärztin im Spital und bin zu 80 Prozent angestellt. In jedem Beruf kann man Teilzeit arbeiten. Das sind archaische Weltbilder, die wir überwinden müssen.»
Und da die Frauen neben dem Job noch unentgeltliche Arbeit übernehmen, wird ihnen die Karriere verwehrt.
«Viele meiner Kolleginnen wollten im Beruf bleiben. Man hat es ihnen aber so schwierig gemacht, dass sie irgendwann zu Hause geblieben sind oder eine Teilzeitbeschäftigung, bei der sie unterfordert sind, akzeptiert haben. Die Unternehmungen müssten aber bemüht sein, Strukturen mitzugestalten. Spitäler leiden unter Fachkräftemangel. Wieso hat ein Spital nicht eine interne Krippe, welche die Bedarfszeiten des Spitals abdeckt, damit eine Frau mit einem Kleinkind trotzdem weiterarbeiten kann?»
Was erhoffen Sie sich vom Frauenstreik?
«Ich hoffe, viele Leute zu erreichen, die sonst nicht über das Thema nachdenken. Mit vielen Anliegen kommen wir einfach nicht vorwärts. Wir haben immer noch eine grosse Lohndifferenz. Das darf nicht mehr sein.»
Wieso verdienen Frauen und Männer im Jahr 2019 immer noch nicht gleich viel für die gleiche Arbeit?
«Weil es immer noch nicht sanktioniert wird. Dabei wäre die Lösung so einfach. Ein Betrieb kann sich für Lohngleichheit zertifizieren lassen, genauso wie viele andere Anliegen zertifiziert werden. Werden ungerechtfertigte Unterschiede festgestellt, wird das Unternehmen sanktioniert. Genauso wie bei der Schwarzarbeit. Die Politiker müssen endlich die Verantwortung übernehmen, Regeln schaffen, damit die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern endlich zur Realität wird.»
Interview: Mathias Gottet
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