Interview | Viktor Perren arbeitet seit 23 Jahren als Patrouilleur in Zermatt. Ein Job, wo jeder Fehler tödlich enden kann
«Die Verantwortung darf uns nicht hemmen»

Mahner. Technische Hilfsmittel seien hilfreich, sagt Viktor Perren. Aber: «Wichtig ist, dass wir im Gelände bleiben und nicht meinen, man könne vom Wohnzimmer aus alles beurteilen.»
Foto: Keystone
Viktor Perren kennt Zermatts Pisten und Hänge. Schon mehr als die Hälfte seines Lebens sorgt er dort für die Sicherheit der Wintersportler. Der Patrouilleur über den Umgang mit Verantwortung, nörgelnde Einheimische und warum er der Digitalisierung in seinem Beruf skeptisch gegenübersteht.
Viktor Perren, wann hatten Sie das letzte Mal Angst?
«Angst nicht, aber Respekt hat man immer. Neulich ging ein kleiner Rutsch auf ein Pistenstück ab, den wir dann auch sofort mit Hunden und den Barryvox-Geräten absuchten, verletzt wurde niemand. In solchen Situationen denkt man manchmal schon: ‹Hoffentlich ist nichts passiert›.»
Ein kleiner Rutsch?
«Ja. Die Leute meinen oft, wir kämpften hier nur gegen Riesen-Lawinen, von denen die grösste Gefahr ausgehe. Aber die kleineren, unscheinbaren Abgänge stellen uns vor grössere Herausforderungen.»
Wenn wir in der Zeitung einen Tippfehler abdrucken, mag das peinlich sein, aber es ist nicht weiter tragisch. Ein kleiner Fehler von Ihnen kann unter Umständen tödlich enden. Wie gehen Sie mit dieser Verantwortung um?
«Verantwortung zu übernehmen ist genau das Spannende an unserem Beruf. Jeder von uns muss sich aktiv einbringen und überlegen, wie man es am besten machen kann. Etwas zur Sicherheit der Menschen hier auf den Pisten beizutragen, ist eine schöne Aufgabe.»
Kann die grosse Verantwortung auch eine hemmende Wirkung haben?
«Das darf sie nicht. Deshalb ist auch die Erfahrung so wichtig. Auch für den Arbeitgeber: Die Bahnen brauchen gute Patrouilleure und müssen schauen, dass sie im Betrieb bleiben.»
Vor zwei Wochen geriet beim Col des Portes du Soleil ein Patrouilleur in eine Lawine und verunglückte tödlich. Danach äusserte sich der Westschweizer Verband der Patrouilleure kritisch, wonach der Druck stetig steige, weil sich keine Destination mehr geschlossene Pisten leisten kann. Spüren Sie in Zermatt diesen Druck auch?
«Nein. Und das hat sich seit der Fusion der hiesigen Skigebiete stark geändert. (Red.: 2002 schlossen sich die verschiedenen Bergbahnen von Zermatt zusammen.) Zuvor prägte ein gewisses Konkurrenz-Denken die Pistenarbeit, jeder wollte natürlich alle Pisten möglichst früh offen haben. Jetzt, mit diesem riesigen Skigebiet, gibt es immer Aus- weichmöglichkeiten, wenn wir irgendwo vorübergehend schliessen müssen.»
Gar kein Druck von oben?
«Ich habe in meiner Karriere noch nie einen Anruf aus der Geschäftsleitung erhalten, dass wir jetzt gefälligst diese Piste oder jenes Teilstück öffnen sollen. Es kann vorkommen, dass ein Skilehrer oder ein Bergführer mal drängelt.»
Die Einheimischen wissen es immer besser.
(schmunzelt) «Ja. Dabei könnte man von ihnen mehr Verständnis erwarten, zumal sie das Gebiet und die entsprechenden Verhältnisse ja kennen.»
Wie andere Berufsfelder auch, haben sich auch die Abläufe im Alltag eines Patrouilleurs durch die Technik stark verändert. Sie können Lawinensprengungen heute vom Wohnzimmer aus auslösen.
«Früher musste man frühmorgens mit den Ski durchs Gebiet, um überhaupt erste Entscheidungen zu fällen. Heute steht man auf und im Internet sind schon sehr viele wichtige und zuverlässige Daten etwa zum Wetter oder zum Schnee aufbereitet, die für eine erste Einschätzung gut sind. Aber das reicht nicht.»
Man muss weiterhin raus?
«Unbedingt. Das ist nach wie vor das A und O für unsere Arbeit. Man muss aufpassen mit der ganzen Digitalisierung. Wichtig ist, dass wir weiterhin im Gelände bleiben und nicht das Gefühl bekommen, man könne vom Wohnzimmer aus alles beurteilen.»
Aber so Sprengmasten sind schon praktisch.
«Natürlich erleichtern uns die fixen Sprengmasten, die vor allem die Hauptpisten schützen, unsern Alltag. Früher musste man da noch mit der Munition im Rucksack durch die Gegend. So ist es sicherer. Und wir können durch diese Automatisierung und den verfügbaren Informationen natürlich auch schneller wieder die Pisten öffnen.»
Sie sind auch Hilfswildhüter und Jäger. Die Sprengungen werden manchmal kritisiert, weil sie das Wild stören. Wie sehen Sie diesen Konflikt?
«Es ist klar, dass die Sprengungen Einfluss haben auf die Umwelt. Es gibt jedes Mal Sprengrückstände und die Detonation kann das Wild irritieren. Meiner Meinung nach muss man sich sehr gut überlegen, wo man einen Sprengmasten installiert. Man muss da immer das grosse Ganze im Auge behalten, also nebst der Sicherheit der Menschen auch die Natur, in der wir leben. Es braucht, wie so oft, ein gesundes Mittelmass.»
Die ganze Welt spricht vom Klimawandel. Was spüren Sie davon, hoch oben in den Hängen?
«Ich habe schon das Gefühl, dass da etwas im Gang ist. Die Kadenz zwischen den Extremen scheint kürzer zu werden. Zuerst ein Winter, der niederschlagärmste seit Messbeginn, gefolgt von einem Winter mit Rekordschnee. Aber besonders fällt mir auf, dass es im Herbst nun viel länger viel wärmer ist als früher.»
Mit welchen Auswirkungen?
«Unsere Kollegen müssen wirklich jede kalte Nacht ausnutzen, um mit der künstlichen Beschneiung bis im Dezember überhaupt fertig zu werden. Zudem frieren die Böden im Herbst nicht mehr richtig zu. Wenn dann plötzlich viel Schnee fällt, haben wir diese Gleitschneelawinen, die sich auf den nicht ausgekühlten Böden sehr lange und bis weit hinunter ins Tal ziehen. Dieses Phänomen kannte man früher weniger.»
Der Zermatter Rettungschef Anjan Truffer hat jüngst an dieser Stelle gesagt, dass die Skifahrer heute top ausgerüstet seien, aber keine Ahnung hätten, wie das Material zu gebrauchen sei. Sie sind täglich auf den Pisten unterwegs. Wie hat sich das Verhalten der Fahrer Ihrer Meinung nach verändert?
«Es ist wie in vielen Bereichen der Gesellschaft: Die Selbstverantwortung bei den Leuten nimmt ab. Wenn irgendetwas passiert, sucht man immer sofort einen Verantwortlichen. Das ist gut und recht, aber das eigene Verhalten wird kaum hinterfragt. Es ist schon fast traurig: Aber die Signalisationen und Absperrungen an den Pisten bringen wir in erster Linie für unsere eigene rechtliche Absicherung an. Viele interessiert das gar nicht, sie gehen einfach unter den Seilen hindurch auf die gesperrte Piste. Und wenn man sie ermahnt, lachen sie nur.»
Interview: David Biner
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