Autismus | Greta Petkeviciene und ihr Leben mit einem autistischen Sohn
«Mein Sohn zeigt keine Zeichen der Zuneigung»

Starke Frau. Greta Petkeviciene lässt sich nicht unterkriegen.
Foto: mengis media / Andrea Soltermann
BRIGERBAD | Ein Leben mit einem autistischen Kind ist nicht immer einfach. Das weiss Greta Petkeviciene aus eigener Erfahrung. Wer jetzt meint, hier ein Klagelied zu lesen, irrt sich.
Greta Petkeviciene, eine elegante Frau, die dunklen Haare zu einem strengen Knoten gebunden, führt in ihr Zuhause. Eine 1-Zimmer- und eine 2-Zimmer-Wohnung mit Verbindungstür. Hier lebt sie zusammen mit ihrem 20-jährigen Sohn Lukas. Den grösseren Raum überlässt sie ihm. Sie sagt: «Ich brauche nicht viel. Ich bin in Litauen in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. In meiner Familie waren menschliche Wärme und Würde wichtiger als materielle Dinge.» Im Flur hängt ein Bilderrahmen mit Familienfotos. Auf einem Foto sind Mutter und Sohn in den Bergen zu sehen. Die Hand von Lukas ruht auf den Schultern der Mutter. Ein Bild, wie es wohl in vielen Familienalben zu finden ist. Doch diese Aufnahme ist nicht Ausdruck einer spontanen Zuneigungsbekundung zwischen Mutter und Sohn. Das Foto ist gestellt, denn Lukas ist nicht in der Lage, Gefühle zum Ausdruck zu bringen; er ist Autist.
Greta Petkeviciene lebt seit elf Jahren im Wallis. Litauen verliess sie bereits als junge Frau. Sie folgte ihrem Mann, einem Profisportler, nach Deutschland. Es war ein Leben mit vielen Umzügen, die Sportlerkarrieren so mit sich bringen. Mit dreissig wurde sie schwanger. Sie und ihr Mann freuten sich auf das Wunschkind. Nach der Geburt gratulierten die Ärzte zu einem gesunden Sohn: Hände, Füsse, alles da. Atmung, Herzschlag, alles gut. Doch Greta Petkevicienes erster Gedanke war: «Was ist mit seinem Kopf, seinem Geist, seiner Seele?» Intuitiv spürte sie, dass es ein besonderes Kind war.
Irgendetwas stimmte nicht
Lukas war ein unruhiges Kleinkind. Er schrie Tag und Nacht. «Ich suchte nach Ursachen. Zuerst dachte ich, er hat Bauchweh. Dann glaubte ich, das Zahnen mache ihm zu schaffen. Nach und nach merkte ich aber, dass Lukas sich nicht wie andere Kinder entwickelte.» Greta Petkeviciene trug ihn ständig bei sich, immer auf der linken Seite. Gegen einen Seitenwechsel protestierte er mit noch lauterem Schreien. «Er rebellierte, wenn ich andere Kleider oder Frisuren trug. Auf alles Neue reagierte er heftig. Obwohl ich ständig Körperkontakt mit ihm hielt, lehnte er nie seinen Kopf an mich. Nie umschlang er mich mit seinen Ärmchen oder zeigte irgendeine Regung von Zuneigung. Er hielt keinen Blickkontakt mit mir. Aus seinem Mund kamen ausser Geschrei keine anderen Laute. Ich war für ihn ein funktionierender Gegenstand, aber keine Mama.» Irgendetwas stimmte nicht mit Lukas.
Nach einer umfassenden Abklärung in einer Klinik in Düsseldorf stand die Diagnose im Raum: frühkindlicher Autismus. Niemand konnte ihr sagen, wie sich Lukas weiterentwickeln würde. Würde er je sprechen lernen? Könnte er jemals ein selbstständiges Leben führen?
«Man schlug mir vor, meinen Sohn mit starken Medikamenten zu behandeln. Doch das wollte ich nicht. Lukas leidet nicht an einem körperlichen Defizit, das man mit einer Operation oder Medikamenten beheben kann. Es geht um seine Wahrnehmung, seine Seele.» Unerfahren sei sie gewesen, sagt sie dazu. Doch für sie war klar: «Ich habe dieses Kind geboren und ich stehe dafür ein, dass mein Sohn die Realität so gut wie möglich erleben kann ohne Ritalin und Psychopharmaka. Er sollte das leben können, was aus ihm herauswollte und konnte.
Ich setzte auf Therapien und Menschen, nicht auf Medikamente.» Eine Entscheidung für einen schwierigen Weg…
Welt mit starren Mustern
Lukas bewegte sich in seiner Welt mit starren Mustern. Die gleichen Schritte, die gleichen Handbewegungen – hundert Mal, tausend Mal, bis zur Erschöpfung. Stundenlange monotone Abläufe, Lichtschalter ein, Lichtschalter aus, diktierten seine Tage. «Störte irgendetwas diese Muster, begann er zu schreien oder er reagierte mit Aggression und Selbstverletzungen.»
Mit der Einschulung begann ein langer Leidensweg. Sie sagt: «Niemand hielt ihn für tragbar. Lukas war so schwierig, kein Kindergarten in Deutschland wollte ihn. Entlastung fand ich bei Aufenthalten bei meiner Familie in Litauen.» Ganz banale Alltagshandlungen wurden zur Nervenprobe. «Ich erntete viele böse Kommentare, wenn Lukas in einem Einkaufszentrum zu schreien begann oder seinen Kopf auf den Boden schlug. Ich wurde beschimpft, dass ich ein verwöhntes, ungezogenes Kind hätte. Ich habe die Konfrontation nie gescheut. Ich bin dagestanden und habe erklärt: ‹Mein Sohn ist Autist.›» Sie ging zu Eltern nach Hause, deren Kinder Lukas demütigten oder ihn auslachten. «Ich sagte zu ihnen: ‹Es gibt so viele Krankheiten oder Beeinträchtigungen. Es kann jeden treffen. Erklären Sie das Ihren Kindern.›»
Manchmal kam aber auch sie an ihre Grenzen: «Ich wusste, wie unser Tag beginnen und wie er enden würde. Alles war nach Lukas’ fixen Regeln und Stundenplänen durchgetaktet. Ich wusste aber oft nicht, wie wir die Tage überstehen sollten.»
Greta Petkeviciene unterbricht ihre Schilderungen. Ihr Blick wird leer. Dann sagt sie: «Ich will ehrlich sein. Es gab Tage, da dachte ich: ‹Ich habe diesem Kind das Leben geschenkt. Aber ich mag auch das Ende. Sein oder mein Ende.›»
Der Umzug vor elf Jahren ins Wallis brachte vorerst ein bisschen Ruhe in ihr Leben. Lukas wurde in der Heilpädagogischen Schule in Glis aufgenommen. Doch dann ging ihre Ehe in die Brüche. «Heute kann ich das verstehen. Mein Mann und ich hatten keine Zeit füreinander. Es ging zu
viel schief. Für mich war das Verlassenwerden sehr hart. Nach einem langen Verarbeitungsprozess kann ich nun in Dankbarkeit auf unsere Ehe zurückschauen.»
Alleine mit einem autistischen Kind stand Greta Petkeviciene vor den Ruinen ihrer Existenz. «Von heute auf morgen stand ich vor dem Nichts. Ich musste dringend eine Arbeit finden. Ohne die Unterstützung von ‹insieme Oberwallis› (heutiger Name: ‹MitMänsch Oberwallis›) hätte ich das nicht geschafft. Lukas war den Tag über gut aufgehoben und konnte einige Nächte in der Woche im Internat bleiben. Ich war bereit, alle Arbeiten anzunehmen, die ich bekam. Ich habe viel geputzt.»
In anderen Ländern wäre ich zugrunde gegangen, sagt sie. «In der Schweiz muss man hart arbeiten, aber das soziale System ist grossartig. Ich habe hier so viele gute Menschen getroffen. Als ich wirklich Hilfe brauchte, hat man mich nicht fallen lassen. In diesem Land sind wir privilegiert. Ich weiss meinen Sohn in einem geschützten Umfeld und ich kann als Frau entscheiden, alleine zu leben. Niemand bedroht mich. Diese Selbstbestimmung und Freiheit ist ein grosser Luxus.»
Mit 15 kam Lukas ins Kinderdorf in Leuk. Dort hat er sich langsam zum selbstständigen jungen Mann entwickelt. «Er hat mich losgelassen», sagt Greta Petkeviciene.
Lukas ist jetzt 20 Jahre alt. Er hat einen begleiteten Arbeitsplatz in einer Werkstätte der Stiftung MitMänsch Oberwallis. Er ist zuverlässig, pünktlich und höflich. «Ich glaube, er ist ein glücklicher Mensch.» Wenn er am Abend von der Arbeit kommt, bleibt er in seinen Räumen, wo alles seinen Platz hat. «Wir reden nicht miteinander. Man kann mit ihm kein Gespräch führen. Er sagt auch nie, dass er mich gern hat, aber das erwarte ich auch nicht. Ich kann ihm klare Ansagen durchgeben. Komplette Sätze versteht er nicht» sagt die 51-Jährige.
«Ich beklage mich nicht über das, was ich in den letzten Jahren durchgemacht habe. Trotz der ganzen Tragik bin ich stolz auf meinen Sohn. Aber wünschen würde ich unser Schicksal niemandem. Ich habe vieles nicht erlebt, was andere Mütter erleben dürfen. Ich konnte meinen Sohn nichts lehren, sondern ihn nur begleiten. Aber ich und die Menschen, die ihm begegnen, lernen viel von ihm. Ich empfinde eine grosse Dankbarkeit, dass ich Menschen getroffen habe, die mir Flügel gaben, dank denen ich fliegen konnte. Für mich hat sich vieles zum Guten entwickelt. Ich geniesse die kleinen, wiedergewonnenen Freiräume. Ich pflege soziale Kontakte, gehe ab und zu ins Kino oder in ein Theater. Zudem hatte ich das Glück, eine interessante Arbeit zu finden, bei der ich in Kontakt mit Menschen sein kann. Ich arbeite im Schlosshotel als Rezeptionistin und Allrounderin. Mein Chef Andreas Furrer vertraute mir und stellte mich an, ohne meine Diplome zu sehen. Er sagte: Du bist eine starke Frau, du schaffst das.»
Zu weit in die Zukunft blicken mag sie nicht. «Ich nehme einen Tag nach dem anderen. Ich erwarte nichts. Ich habe schon so viel Gutes erfahren, jetzt ist die Reihe an mir, den Menschen etwas zu geben.»
Nathalie Benelli
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