Essay | Nach 300 Tagen: Tschüss, Militär, machs gut

Ich bin dann mal weg

<b>Entlassen, ehrenhaft.</b> Was bleibt von der Zeit im Militär, wenn man Ausrüstung und Gewehr abgibt?
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Entlassen, ehrenhaft. Was bleibt von der Zeit im Militär, wenn man Ausrüstung und Gewehr abgibt?
Foto: Walliser Bote

Quelle: WB 03.01.19 0
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Zum letzten Mal das Gewehr und den Tarnanzug zusammenkramen. Die Abgabe der Militärausrüstung bringt Erinnerungen hoch. Militär – wir hatten eine schwierige Zeit zusammen.

Das Gewehr, StgW90, liegt auf dem Sitz gegenüber. Die Sonne scheint durch das Fenster, der Zug rollt nach Sitten. Der Kontrolleur kommt vorbei, grüsst. Ich zeige ihm mein GA. Der Marschbefehl ist tief in meiner grossen Militärtasche vergraben, irgendwo zwischen dem Schuhputzzeug und einem Militärgnägi. Ich schaue auf das Gewehr und denke an meine Zeit im Tarnanzug.

300 Tage habe ich gedient. Ein Dankeschön an das Vaterland, haben sie gesagt. Heute bringe ich meine letzten Habseligkeiten zurück. Die paar militärischen Andenken, die ich vor sechs Jahren irgendwo in einem tiefen, dunklen Stollen im Tessin gefasst habe. Doch werde ich aus mei-ner Zeit im Militär mehr behalten als ein paar olivgrüne T-Shirts, lange Unterhosen und ein Sackmesser ohne Zapfenzieher?

Ghackets mit Hörnli zum Frühstück

Erinnerungen bleiben. Etwa an die Zugfahrten ans WEF in Davos. Die Gleise waren verschneit und zogen sich in die Länge. Sechs Stunden aus dem Goms in den Graubünden, meist alleine, da ich in meiner Wachtruppe der einzige Walliser war. In Davos standen wir nächtelang in der Kälte. Über der Schussweste trugen wir
ein Schaffell, auf dem Kopf eine Russenmütze. Wir bewachten dieses Hotel, wir zitterten für die schlafenden Soldaten.

Das Hotel erinnerte mich an das Sanatorium aus dem Roman von Thomas Mann. Und so wie im mannschen Zauberberg verging die Zeit zunächst langsam und begann sich dann zu überlappen. Die Tage wurden von den Wachoffizieren gedrittelt. Es gab Tage, an denen gingen wir nach dem Frühstück ins Bett. Und es gab Tage, an denen schlurften wir aus dem Bett und es gab Ghackets mit Hörnli.

In Sitten angekommen poltert das Ungetüm einer Tasche hinter mir her. Ich blicke auf das Schloss Tourbillon, auf die Basilika von Valeria, die in der Sonne erstrahlen. Und aus dem Schatten wünsche ich mich dort hinauf. So wie ich mich aus dem verschneiten Davos, aus der Kälte, zu meinen Liebsten gewünscht habe. Ich blicke auf den Rotten, der immer tiefer ins Unterwallis fliesst und sich irgendwo in Südfrankreich im Mittelmeer auflöst.

Nur für den Fall

300 Tage haben wir gespielt. Krieg kann es immer geben, haben sie gesagt. Wir haben gespielt, dass irgendwas passieren könnte. Ich denke an den letzten Krieg, der hier wohl gewütet hat. Lange ist es her, stets verschont sind wir geblieben von den Gräueln des Krieges. Und trotz der Zeit, die verflossen ist und den Erinnerungen an Kriege, die wir nur aus den Geschichtsbüchern kennen, spielen wir weiter Krieg. Jedes Jahr rücken Tausende Männer und ein paar Frauen in Kasernen ein, bekommen Gasmasken, einen ABC-Schutzanzug und verschweissen ein frisches Paar Unterhosen und einen Farmer in einen Plastiksack. Nur für den Fall. Aber für welchen Fall? Meistens haben wir nur gewartet.

So wie heute. Wir stehen in einer grossen Lagerhalle, werden herumgeschubst und schön aufgereiht, als wäre die Ordnung die erste Verteidigungslinie der Schweiz. Und warten dann. «Jetzt weiss ich, warum ich es nicht vermisst habe», sagt einer aus den hinteren Reihe. Vor jedem liegt ein Sturmgewehr auf dem Boden und ein paar Dinge, die in den letzten Jahren irgendwo in einem Keller lagen. Einer trägt seine Ausrüstung in einer IKEA-Tasche in die Halle. Seinen Rucksack und seine Tasche hat er im Internet verkauft. Schon eine halbe Stunde bevor die Materialabgabe beginnt, ist die Halle voller Leute.

Freier Platz im Keller

300 Tage haben sie uns angeschrien. Ordnung ist das halbe Leben, haben sie gesagt. Also ordneten wir, bis alles so war, wie sie es wollten. Und wir pünktlich waren. Ja, das hat man im Militär gelernt. Wenn die Schweiz auf ein Schlachtfeld ziehen müsste, ja, dann wären sie pünktlich dort. In diesem Sommer auf dem Monte Ceneri im Tessin stopften wir unser gesamtes Material etliche Male in unsere Taschen, trugen es aus der Kaserne. Nur um es ein paar Hundert Meter weiter unten auf dem Vorplatz schön vor sich auszubreiten. Und als dann jeder Rekrut alle Sachen auf seine Vollständigkeit überprüft hatte, packten wir wieder alles ein, um es im Zimmer fein säuberlich in die Schränke zu sortieren. Und nicht vergessen: Der Kopf der Trinkflasche ist immer nach links ausgerichtet, Rekrut Meier!

Jetzt werden wir also entlassen. Einige frühzeitig wie ich, andere haben bereits die ersten grauen Haare. Ein Mann in Grün begrüsst uns, redet davon, dass wir uns aufgeopfert haben. Und dass der heutige Tag Platz im Keller frei mache, für ein paar Flaschen Wein. «Herzlichen Dank an euch», sagt er. Sold gebe es heute aber keinen.

Sturmgewehr geht ohne Pathos zurück

300 Tage haben wir geübt. Das Militär sei eine Lebensschule, haben sie gesagt. Aber was lernt man in seiner Zeit im Tarnanzug eigentlich genau? Wie ich einen ABC-Schutzanzug korrekt anziehe, habe ich vergessen. Wie ich das Gewehr auseinandernehme und putze, habe ich vergessen. Und ob das Abzeichen mit den zwei Hütchen ein Fourier oder ein Feldweibel ist, habe ich vergessen. Ich weiss aber, wo Payerne ist. Oder Bière und Bure, Moudon und Wangen an der Aare. Und dass es in der Burn-out-Bar in Kirchberg verdammt günstiges Bier gibt.

Heute darf ich das Sturmgewehr wieder zurückgeben. Mit Nationalhymne und Schweizer Fahnen wurde es mir vor einigen Jahren überreicht. Ein Angestellter in Sitten kontrolliert die Seriennummer, ein anderer schaut durch den Lauf. Und weg ist es. Ganz ohne Pathos. Ein Parcours folgt: hier die Hose, da die Jacke, der Gürtel, die Warnweste, die Unterhosen. Ein Ding nach dem anderen verschwindet in den Palettenkisten. Und landen vielleicht bald bei einer Material-Kontrolle auf dem Vorplatz einer Kaserne.

Pamir für das Grossraumbüro

300 Tage haben wir geschwitzt. Oder gefroren. Wer zum Militär gehe, werde zum Mann, haben sie gesagt. Warum, weiss ich bis heute nicht. Ich erinnere mich an einen zweitägigen Marsch im Berner Oberland. Wir haben biwakiert, in der Nacht hat es leicht geschneit, am Morgen waren alle gefroren. Zwei Tage später lag ein Drittel der Kompanie im Bett. Vielleicht hat man im Militär gelernt, dass Jammern nichts verändert. Ist der Marsch erst mal vorbei, ist man irgendwie stolz auf sich selber, auf den eigenen Körper. Die Blasen an den Füssen brennen. Kann man nach 35 Kilometern Fussmarsch den Rucksack und die Kampfstiefel ausziehen, macht sich ein besonderes Gefühl breit. Aber auch auf Kamerad Stürmlin ist man stolz, er hat alle motiviert. Und auf Kamerad Meier, er trug den Rucksack des schwächsten Rekruten.

Nun ist alles weg. Verloren habe ich nichts, ganz im Gegenteil. Auch nach dem Parcours bleiben mir einige Sachen übrig. Einige Namensschilder von Leidensgenossen, ein Béret in Bordeauxrot und ein Schuhputzset. Und ein Pamir, der zwar nie wieder auf einem Schiessplatz, dafür aber im Grossraumbüro auf meinem Kopf sein wird. Der Offizier zerdrückt mir die Hand. «Alles Gute», sagt er und gibt mir ein kleines Präsent. Ein kleines Sackmesser – mit Zapfenzieher.

Geschichten bleiben

300 Tage haben wir zusammengehalten. Wir sind nur so stark, wie das schwächste Glied, haben sie gesagt. Wir wussten, dass die Aufgabe nur dann gemeistert war, wenn wir alle im Ziel ankamen. Und hatte Rekrut Stalder wieder das Magazin in seinem Zimmer vergessen, überbrückten wir die Zeit mit Liegestützen. Wir regten uns auf. Nicht über Rekrut Stalder. Wir regten uns über den Tubeliverein auf. Dachten an das Wochenende, wünschten uns aus dieser Sackgasse, setzten uns Ziele, machten uns Hoffnungen: für ein freies Leben nach dem Militär.

Ich fahre in einem Kleinbus durch den Pfynwald ins Oberwallis. Den Chauffeur kenne ich erst seit einer Stunde. Er raucht eine Zigarette und sagt, wie froh er ist, dass die Zeit im Militär nun endlich vorbei ist. Und dann beginnt er zu erzählen. Nicht von den Blasen an den Füssen und nicht von den Unteroffizieren, von denen sie schikaniert wurden. Er spricht von dem Wochenende, als sie von der Wache abhauten und völlig besoffen zurückkehrten.

300 Tage haben wir gelacht. Die einzige Waffe, mit der wir diese Zeit überstehen konnten. Im Rückblick wirken die Erinnerungen positiver als damals. Als wir auf der Ladefläche eines LKWs sassen und das Gewehr eines Kameraden in den Rücken drückte, war es egal, wer es war. Banker oder Elektriker, Landwirt oder Student, Bünzlischweizer oder Secondo – das alles war egal. Wir waren Kameraden in grüner Farbe. Nie waren wir gleicher. Das merkten wir erst nach 300 Tagen. Wir trafen uns an der Hardbrücke in Zürich. Soldat Meier trug immer noch Lackschuhe, Soldat Paganini Sneakers und ein Baseball-Cap. Und Soldat Stürmlin, der trug eine Lederjacke. Wir tranken ein paar Bier, lachten. Und redeten über unsere 300 Tage.

Mathias Gottet
03. Januar 2019, 15:32
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