Ski alpin | Der Walliser Justin Murisier hat drei Kreuzbandrisse erlitten. Was machte das mit ihm?
Ein Mann und sein Knie

Mit Problemknie. Der 28-jährige Unterwalliser Justin Murisier.
Foto: Keystone
Es gibt einen besonderen Satz, den Justin Murisier einmal gesagt hat. Es ist ein Satz, der so ziemlich alles miteinschliesst, was den 28-jährigen Walliser Technikfahrer umtreibt. Hoffnung, Prophezeiungen, Tiefschläge.
Der Satz also: «Hirscher, Pinturault und Kristoffersen waren nie schwer verletzt. Da sieht man, wie wichtig die Gesundheit im Spitzensport ist.» Murisier sagte das nicht verzweifelt oder sogar mit eifersüchtigem Unterton. Aber eben doch mit Bedauern. Es erinnert ein wenig an Silvan Zurbriggen, der nach seinem schweren Sturz auf den Kamelbuckeln eine Spur zu viel Ängstlichkeit nicht mehr loswurde, sobald die Sichtverhältnisse bei einem Rennen schlecht waren.
Mit 18 war Murisier weiter als Marcel Hirscher, ihm wurde der Sieg im Gesamtweltcup zugetraut. Beim fünften Weltcupstart wurde er schon Zehnter. Zusammen mit dem Saas-Almageller Gabriel Anthamatten galt er bei Swiss-Ski als die grosse Zukunftshoffnung, sie waren das designierte Nachfolge-Duo von Daniel Albrecht und Marc Berthod. Alle vier kamen nicht ohne grobe gesundheitliche Schäden durch – ein immenser Verlust für Swiss-Ski ganz an der Spitze.
Unfälle immer im Kopf
Murisier erlitt in den letzten acht Jahren drei Kreuzbandrisse, den ersten beim Fussballspielen in Zermatt. Dreimal verpasste er eine Weltcupsaison (2011/12, 2012/13, 2018/19), darunter die letzte. Viermal musste er bereits einen Eingriff an seinem rechten Problemknie vornehmen lassen, Knorpelmasse gibt es dort nicht mehr viel. Es gibt Spitzenorthopäden, die die Meinung vertreten, viermal sei ein Kreuzbandriss zu korrigieren, danach nicht mehr, weil es kaum mehr Fixationspunkte gebe. Murisier denkt so wenig wie möglich daran, wo er heute stünde ohne die Serie an schweren Verletzungen. Würde er das machen, so würde er eher ans Aufhören denken, sagt er. «Der körperliche Neuaufbau», so Murisier in einem Bericht in der NZZ, «ist extrem hart.» Er verspürt immer Schmerzen und hofft, dass diese im nächsten Winter kleiner werden. Ansonsten mache eine Fortsetzung der Karriere keinen Sinn mehr. Die Unfälle gehen ihm nie aus dem Kopf. Murisier versuchte es mit psychologischer Hilfe, aber nach zwei Sitzungen liess er das sein. Er hatte sich nicht öffnen, das Vertrauen zum Fachmann zu wenig aufbauen können.
Zuletzt war zu lesen, dass die Anfälligkeit auf eine genetische Unzulänglichkeit in der Familie zurückzuführen sei. Das Murisier-Knie ist offenbar auffallend eng, deshalb haben die Bänder weniger Platz zwischen den Knochen als beim Durchschnitt der Menschen. Diese Theorie ist allerdings umstritten. Hans Spring war langjähriger Chefarzt bei Swiss-Ski, er sagt: «Die engen Platzverhältnisse sind nicht zwangsläufig eine Begründung, dass das Band schnell wieder reisst. Ist die Enge ein Problem, kann man etwas Knochen abfräsen. Zudem sind mehrfache Risse des Kreuzbandes keine Seltenheit. Nicht wenige erwischt es sogar mit einem doppelten.» Dabei geht vergessen: Der Körper der Menschen ist für die immensen Kräfte, die im modernen Skirennsport wirken, gar nicht gemacht.
Ein Kreuzband ist kein starkes Halteband, wie viele meinen. Es führt das Knie bei Bewegungen bloss. So zum Beispiel begrenzt es die Streckung des Schienbeins. Spring: «Bereits bei 70 Kilogramm Zug kann es ein Kreuzband ‹verrupfen›. Es gibt immer wieder andere Gründe, weshalb es reisst.» Für die Stabilisation des Knies sorgt nicht das Kreuzband, sondern die Muskulatur. Deshalb musste Murisier seinen Körper stählen, um nicht in extreme Positionen und aus dem Gleichgewicht zu kommen. «Arbeiten wie ein Verrückter», nennt er es.
Didier Plaschy meint, dass Murisier einen Vorteil habe nach den zahlreichen Rückschlägen. «Sein rechtes Knie ist zwar eine Zeitbombe, aber Justin ist eine Kampfsau», sagt der Skifachmann. Er habe das Gefühl, dass der Unterwalliser seinen Fahrstil aufgrund seiner Verletzungen etwas angepasst habe, dass er weniger über die gelenkfressende Kampflinie, sondern mehr über die technischen Fertigkeiten funktioniere. Plaschy: «Justin sagt, er könne schneller fahren. Kippt er auf dem Weg dahin aber wieder auf die Kampflinie? Kann er den neuen Stil weiterentwickeln und wie weit? Bis aufs Podest, oder bleibt er ein guter Fahrer für die Plätze fünf bis 15?» Das bislang beste Riesenslalomresultat von Murisier ist ein vierter Rang (Red. Dezember 2017 in Alta Badia).
Schweissausbrüche, Zweifel
Was Unfälle und schwere Verletzungen mit einem Rennfahrer anstellen können, offenbart beispielsweise der angesprochene Fall Zurbriggen, auch wenn es in der Abfahrt im Gegensatz zum Riesenslalom besonders krass zur Sache gehen kann. Es sind aber allesamt Geschichten über Abstürze, Kämpfe und im besten Fall Erlösungen. Geschichten, die der Zuschauer nicht sieht.
2007 stürzte Zurbriggen in Val Gardena auf den tückischen Kamelbuckeln, weil er rund zehn Stundenkilometer schneller als im Training unterwegs war, dadurch die Zeit für die Vorbereitung auf den zweiten Sprung nicht mehr reichte. Er hatte also zu wenig Vorlage, auf dem höchsten Punkt bekam er Unterluft, die Skispitzen stellten sich auf und dann «hets tschädderut», wie er sagte. Die Nächte vor dem nächsten Rennen auf der Saslong ein Jahr später verbrachte er weitgehend schlaflos, er hatte Schweissausbrüche, alles drehte sich in seinem Kopf, um 4.00 Uhr schaute er sich Videos von gelungenen Sprüngen an. Tausende Sprünge über die Kamelbuckel hatte er in Gedanken schon hinter sich, doch nun rebellierten Körper und Geist.
Marc Gisin dürfte nach seinem Horrorsturz 2018 in Val Gardena die Karriere wohl beenden. Der Innerschweizer redet von Selbstzweifeln und es gibt Leute in der Szene, die von einer dummen Aktion reden, sollte er trotzdem noch weitermachen. Auch Shootingstar Marc Odermatt hat trotz seinen 22 Jahren bereits drei Knieverletzungen hinter sich. 2017 Meniskusschaden links, 2018 Läsion Aussenmeniskus rechts und aktuell Riss Aussenmeniskus rechts – alles keine Kreuzbandrisse, aber immerhin.
Walter Vesti, einer der wildesten Fahrer in den 70er-Jahren, meinte, für einen Rennfahrer gelte dasselbe wie für ein Rennpferd, also schnellstmöglich wieder übers fatale Hindernis, ansonsten bleibe das Negativerlebnis haften. Zurbriggen musste ein ganzes Jahr lang warten. 2010 dann gewann der Oberwalliser in Val Gardena. Deshalb sagte Carlo Janka damals: «Ich ziehe den Hut vor Silvan.»
Es ist sehr wohl möglich, dass man bald den Hut vor Murisier ziehen kann. Zu einem Top-Ten-Fahrer ist er bereits schon wieder geworden. Allein das verdient Anerkennung. Er sagt nach dem zehnten Platz im Riesenslalom von Beaver Creek und dem achten Rang beim Parallel-Riesenslalom von Alta Badia: «Ich habe meine Chancen. Ich habe sie wieder.»
Heute Samstag startet Murisier in Adelboden zu seinem 100. Weltcuprennen.
Roman Lareida
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