Porträt | Marcel Julier baute auf der ganzen Welt Seilbahnen. Ein Blick zurück
Der Seilbahnbauer, der die Welt gesehen hat
BISTER | Noch ein Kontrollgang beim ÖV-Hub in Fiesch, ein letzter Kaffee mit Kollegen und das war es. Am 19. Dezember 2019 ging Marcel Julier nach 43 Jahren Arbeit im Seilbahnbau in Pension. Eine Feier gab es nicht. Das wäre nicht in seinem Sinn gewesen. Der 65-jährige Montageleiter mag um seine Person kein Aufheben machen.
In den ersten Januartagen traf man Marcel Julier ab und zu auf dem Bauernhof seines Sohnes in Bister an. Irgendetwas ist immer. Eine Maschine, die den Geist aufgibt, etwas klemmt – Marcel Julier weiss, was zu tun ist. Leicht könnte man dem Trugschluss unterliegen, dass hier zwei Bauern am Werk sind: ein Vater, der seinem Sohn sein Lebenswerk überlässt und noch gelegentlich mithilft. Doch dem ist nicht so. Denn mit Landwirtschaft hatte Marcel Julier in seiner beruflichen Karriere nichts am Hut. Sesshaft war er nie. Er baute Seilbahnen auf der ganzen Welt. Auf die Frage, wo er denn überall gearbeitet habe, beginnt er mit einer Aufzählung von Städten und Ländern: «Lake Placid, New York, Barcelona, Mexiko, Venezuela, Schottland, Frankreich, Saudi-Arabien, Hongkong, Singapur…» Er unterbricht die Aufzählung und meint pragmatisch: «Eigentlich wäre es einfacher aufzuzählen, wo ich noch nicht war: China und Afrika», sagt Marcel Julier.
Abenteuer, Arbeit und Ausdauer
Zum Seilbahnbau fand er eher zufällig. Der gelernte Schlosser kam 1976 im Restaurant Guldersand mit Monteuren der Gondelbahn Bettmeralp-Bettmerhorn in Kontakt. «Der Vorarbeiter sagte zu mir, er könnte noch ein paar Arbeiter gebrauchen», erzählt Marcel Julier. So zwei, drei Tage wollte er aushelfen. Er blieb 43 Jahre. «Ich habe bei der Firma Habegger begonnen und bei Doppelmayr/Garaventa aufgehört. In meiner Berufszeit gab es bei den Seilbahnunternehmen viele Fusionen und Umbenennungen. Wir waren immer mal wieder anders angeschrieben, aber die Köpfe blieben immer dieselben», sagt er augenzwinkernd. Im Norden Amerikas, nahe der kanadischen Grenze, hatte Marcel Julier 1982 seinen ersten Auslandseinsatz als Gruppenleiter. Acht Englisch sprechende Arbeiter wurden ihm zugeteilt. «Ich verstand kaum ein Wort. Zu meinem Chef sagte ich: ‹Hammer hämmer, aber wie soll ich dene säge, was z tüö isch?›», erinnert er sich. Ein Sprung ins kalte Wasser. Irgendwie gelang die Verständigung mit den «Hillbillies» und mit den Jahren war es um Juliers Englischkenntnisse dann besser bestellt. «Essen und Trinken konnte ich in jeder Sprache bestellen. Das ist doch das Wichtigste», scherzt Marcel Julier.
Wenn er zu erzählen beginnt, was er alles erlebt hat, vergisst man die Zeit. Eine Anekdote reiht sich an die nächste. Er schildert in bildhafter Sprache vom heissen Wüstensand, auf dem die Schuhe dahinschmolzen, bis sie aussahen, als hätte sie ein Hund gefressen. Er schildert das Ausmass eines Sonnenbrands, den er sich auf einer Baustelle in Venezuela auf 4800 Metern über Meer holte. «Ich glaube, in der örtlichen Apotheke haben sie nicht genau verstanden, was ich wollte. Jedenfalls sah ich nach der Behandlung aus, als ob ich Dispersionsfarbe ins Gesicht gestrichen hätte», nimmt er sich selber auf die Schippe. Die extremen Temperaturunterschiede auf den Baustellen legt er am Beispiel von Schottland dar: «Am Vormittag habe ich bei 20 Grad geschwitzt. Keine Stunde später brachten die Nordwinde so kalte Luft auf das Festland, dass ich meine Finger vor Kälte kaum mehr rühren konnte.»
«Es ist einfacher aufzuzählen, wo ich auf der Welt noch nicht war: China und Afrika»
Marcel Julier
Montageleiter Seilbahnbau
Marcel Julier wird ernst, wenn er von Unfällen spricht. «Bei den Arbeiten an den Gletscherliften am Klein Matterhorn hatten wir in den 1980er-Jahren gleich zwei Todesfälle zu beklagen. Das sind schwierige Momente.» Im Seilbahnbau wirken riesige Kräfte, da könne immer etwas passieren. Fachwissen und Erfahrung würden helfen, diese Arbeit gesund zu überstehen. Gemessen an den Gefahren, denen man bei dieser Arbeit ausgesetzt sei, passiere aber eigentlich wenig, sagt er.
Kritisch betrachtet Marcel Julier die Entwicklung der letzten Jahre: «Wenn man heute auf einer Baustelle beginnt, sollte morgen schon alles erledigt sein.» Dieser Zeitdruck war es denn auch, den er mehr und mehr als Belastung empfand. Die Arbeit selber mochte er bis zum Schluss. «Heute werden Baustellen nach einem einfachen Dreisatz geplant: Ein Arbeiter macht so viel, drei Arbeiter machen drei Mal mehr. Dem ist aber nicht immer so. Wenn Fachkenntnisse von Mitarbeitern fehlen, macht man die Arbeit besser selber. Zeitdruck hin oder her.»
Familienleben und Auslandseinsätze
Bis man im Seilbahnbau selbstständig arbeiten könne, brauche es vier bis fünf Jahre. Um Verantwortung zu übernehmen, noch länger. «Nachwuchs gibt es in dieser Branche genug. Junge Arbeiter finden das Reisen attraktiv. Das Problem ist, dass sie nicht lange bleiben. Kaum haben sie ein ‹Gspänli›, sind sie nicht mehr bereit, unter diesen Konditionen zu arbeiten und zu leben», benennt er die Schwierigkeit, Fachleute zu rekrutieren.
Reisen um die halbe Welt, monatelange Auslandsaufenthalte und Arbeitstage von elf Stunden, all das verlangt auch von Familienangehörigen eine gewisse Akzeptanz. «Ich habe meiner Frau von Anfang an gesagt, dass ich diese Arbeit weiterführen will. Sie hat das akzeptiert und ist tatsächlich immer noch da», sagt der frisch Pensionierte. «Wenn ich von Weihnachten bis März freihatte und zurück zu Hause war, motzten meine Tochter und mein Sohn manchmal: ‹Kaum bist du da, musst du alles auf den Kopf stellen.› Aber das ging eigentlich ganz gut.»
Den Wunsch vieler Menschen im Ruhestand, die Welt zu bereisen, teilt er nicht. «Ich habe genug von der Welt gesehen.» Als Pensionierter schätzt er es, über seine Zeit frei zu verfügen. «Ich bin gerne bereit, meinem Sohn bei der Landwirtschaft unter die Arme zu greifen oder sonst jemandem auszuhelfen. Aber nur, wenn mir danach ist. Fixe Programme hatte ich in den letzten Jahrzehnten genug.»
Nathalie Benelli
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