Porträt | Als sie auf die Welt kam, tobte gerade der Weltkrieg, der Erste Weltkrieg – Besuch bei der ältesten Oberwalliserin
Das ist Marguerite, geboren in Naters im Januar 1915

Geborene Werlen aus Ulrichen. «Es ist schon verrückt, dass alle anderen vor mir gehen mussten», sagt Marguerite Torrent, sie sei das zierlichste der sechs Kinder gewesen.
Foto: mengis media / Alain Amherd
Marguerite Torrent richtet sorgfältig ihr seidenes Halstuch. Sie sitzt neben uns und beobachtet die Menschen an den anderen Tischen. Wir befinden uns in der Cafeteria des Altersheims EMS Les Vergers in Aproz bei Sitten. Die Sonne scheint erstaunlich warm für Februar und erfüllt die Cafeteria mit ihrem goldenen Licht.
Marguerites Schwiegersohn, Marc, breitet ein Diplom vor uns aus. Es stammt aus dem Jahr 1931. Das Jahr, in dem Marguerite die Hauswirtschaftsschule abschloss. «Dort lernten wir, wie wir dereinst unsere Männer glücklich machen sollten», erzählt sie. Sie habe dort auch gelernt, gute Gemüsesuppe zu kochen. Das könne sie immer noch, doch das Rezept dazu verrate sie nicht, sagt sie verschmitzt. Während des Gesprächs lacht sie viel, scherzt mit anderen Menschen. So sei sie immer schon gewesen, sagt Tochter Anne Marie. Marguerite selbst meint dazu nur: «Je mehr man lacht, desto länger lebt man.» Sie muss es wissen. Mit 105 Jahren ist Marguerite Torrent die zweitälteste Frau im Kanton Wallis.
Die Tochter von Ulrich Werlen und Marie Gaillard erblickte am 23. Januar 1915 in Naters das Licht der Welt. Ihr Vater stammte ursprünglich aus Ulrichen im Goms, «wo die Rhone zu einem breiten Fluss wird», wie Marguerite es beschreibt. Die achtköpfige Familie lebte zuerst in Brig, dann zog es sie nach Ardon im Welschwallis, den Heimatort ihrer Mutter. «Plötzlich hiess es: Sachen packen, wir gehen.» Die Erinnerungen aus ihrer frühen Kindheit sind immer noch stark präsent.
«Mit zwei Mal Milch»
Obwohl sie nur kurze Zeit im Oberwallis lebte, lag ihr der Walliser Dialekt am Herzen. «Sie hat mit uns immer Walliser Dialekt gesprochen», sagt Tochter Anne Marie, «jedoch hörte sie bald damit auf, da wir von den anderen Kindern deswegen ausgelacht wurden.» Von da an habe Marguerite daheim nie mehr Deutsch gesprochen mit ihren beiden Töchtern. «Heute finde ich es schade, dass wir uns durchgesetzt hatten», sagt Anne Marie und blickt nachdenklich in die weite Cafeteria.
Im Alter von 24 Jahren heiratete Marguerite ihren Ehemann Denis Torrent. Zusammen zogen sie nach Sitten. Marguerite besass aber weiterhin Reben und ein Stück Land in Ardon. Die Landwirtschaft lag ihr sehr am Herzen. Doch für ihre Tochter war der eigene Boden nicht immer nur ein Segen. «Als Kinder mussten wir andauernd in der Landwirtschaft und im Garten helfen, immer. Ich war froh, als sie ihre Reben und den Boden endlich verkaufte.» Für Marguerite sei der Verkauf jedoch eine schwere Entscheidung gewesen, fügt die Tochter hinzu und streicht ihrer Mutter sanft über die Schulter.
Eine Pflegefachfrau kommt und unterbricht unser Gespräch. Ob wir etwas trinken wollen. «Einen Kaffee», sagt Marguerite Torrent, und bevor sie fertig bestellt hat, ergänzt die Pflegerin: «Mit zwei Mal Milch.» Die beiden lächeln sich an. Man kennt sich.
Im Januar 2018, genau an ihrem 103. Geburtstag, zog Marguerite Torrent ins Altersheim. Davor lebte sie alleine in Sitten. Ihr Mann starb schon 1992 im Alter von 85 Jahren. Auch ihre Geschwister hat sie alle überlebt, obwohl sie als junge Frau das zierlichste der sechs Kinder gewesen sei. «Es ist schon verrückt, dass alle anderen vor mir gehen mussten», sagt Marguerite.
Einen Platz im Altersheim zu finden sei schwierig gewesen, erzählt die Tochter. Sie hätten entfernten Kontakt mit einer Angestellten des Heims in Aproz gehabt. Das klinge jetzt sehr makaber, sagt sie, aber als sie in der Zeitung die Todesanzeige eines Bewohners eben dieses Altersheims sah, meldete sie sich dort umgehend, um ihre Mutter anzumelden. Marguerite hatte Glück, sie bekam den Platz.
In ihrem Leben musste Marguerite Torrent auf vieles verzichten. Das Wallis war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch stark landwirtschaftlich geprägt. Alle Hände waren gefragt. Dazu kommt die Weltgeschichte, die die Schweiz und das Wallis zwar weitestgehend verschonte. Aber die beiden Weltkriege mit der Weltwirtschaftskrise dazwischen gingen auch hier nicht spurlos vorbei. Als die Nazis aufgaben und die Welt in Trümmern lag, war Marguerite 30 Jahre jung. Doch das Verzichten habe ihre Mutter nicht etwa verbittert, beteuert Tochter Anne Marie heute. Nein, sie sei immer schon eine herzensgute
Seele gewesen.
Mit 103 ins Altersheim
Im Gegensatz zu ihrer Mutter sei sie selbst dann in einer Zeit des ständigen Fortschritts aufgewachsen, fügt Anne Marie hinzu. «Die Generation von Maman hat die Wäsche noch draussen am Brunnen gewaschen. Bei uns, da wurde alles praktischer, schneller oder machte weniger Krach.» Sie und ihre Schwester seien streng katholisch erzogen worden, «also ganz normal».
Marguerite hakt ein und erzählt mit leuchtenden Augen, wie sie einmal den Papst traf und dabei sogar seine Hand berührte. Sie sei in Venedig gewesen und habe sich dann gedacht: «Wir sind schon so nahe an Rom, warum besuchen wir nicht gleich den Papst?» Auf die Frage, welchen Papst sie denn getroffen habe, antwortet sie schlicht: «Keine Ahnung, ich habe ihn ja nicht gefragt, wie er heisst. Papst ist Papst.» Gemäss Tochter Anne Marie war es Pius XII., Jahrgang 1876, und Papst bis ins Jahr 1958.
Mutter und Tochter sind zufrieden mit der Unterkunft, Marguerite fühlt sich sichtlich wohl. Immer wieder kommt jemand vorbei und begrüsst sie oder schäkert mit ihr. Wo sie denn den Schnaps versteckt habe, fragt beispielsweise eine Pflegerin bei der Frage, ob sie jetzt ihr Zimmer aufräumen könne. Marguerite antwortet nur: «Schnaps? Den habe ich bereits runtergespült. Ich wollte Ihnen einen Schluck lassen, aber Sie sind ja nicht aufgetaucht.»
Auch nach 105 Jahren auf dieser Welt hat Marguerite Torrent ihren Witz und liebevollen Charakter nicht verloren. Aber sie macht nicht nur Spässe, wenn sie auf ihr Leben zurückblickt. «Ich glaube, dass ich jetzt gehen kann. Ich habe immer versucht, das Beste aus meinem Leben zu machen.»
Fides Georgi
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