Zeckenbisse | Regula Treyer kämpft sich nach einer Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) zurück ins Leben
«Ein Zeckenbiss hat mich fast das Leben gekostet»
Im Leben von Regula Treyer gibt es ein einschneidendes Ereignis. Im Juni 2018 wurde sie von einer Zecke gebissen. Seither hat sich für die aktive Frau vieles verändert. Ihre Geschichte erzählt sie, um andere auf FSME aufmerksam zu machen. Die tückische Krankheit kann durch eine Impfung verhindert werden.
Regula Treyer führte bis zum Sommer 2018 ein ausgesprochen aktives Leben. Sie war als Lehrbeauftragte an der Fachhochschule für Gesundheit in Visp und als Pflegefachfrau in der Anästhesie in Sitten tätig. Neben dem 90-Prozent-Pensum nahm sie sich viel Zeit für sportliche Aktivitäten. Sie machte Ski- und Bergtouren und widmete sich dem Klettern und Freeriden. «Ich habe Gipfel wie das Matterhorn, die Dent Blanche, das Bietschhorn, das Weisshorn und das Zinal Rothorn bestiegen. Der Alpinismus ist meine Leidenschaft», sagt Regula Treyer. Am Berg lernte sie einiges: «Mit jedem Bergerlebnis wirst du mental stärker. Man gewinnt Selbstvertrauen und trägt Verantwortung für sich und die Seilschaft. Zudem lernt man auch seine Grenzen kennen und respektieren.»
Diese Fähigkeiten spiegelten sich ebenso in ihrem Beruf wider. «Auf der Anästhesie musst du ebenfalls mental stark sein. Man muss vorausdenken, Gefahren minimieren und voraussehen. Im Ernstfall braucht es einen klaren Kopf und schnelles, überlegtes Handeln», erklärt die Fachfrau. Leistungsbereitschaft hiess die Maxime, die sich wie ein roter Faden durch ihr privates und berufliches Leben zog. Neben all diesen Aktivitäten fand sie noch Zeit für ihre zwei Töchter und die vier Grosskinder. «Mit meiner Familie zusammen zu sein und die Grosskinder aufwachsen zu sehen, bedeutet mir viel», sagt die 58-Jährige.
Scheinbar harmlose
Grippesymptome
Auch im Sommer 2018 wollte sie wieder auf dem Gipfel eines 4000ers stehen. Dafür hatte sie sich gut vorbereitet. Doch dann kam alles anders. Während dem Unterrichten an der Fachhochschule bemerkte sie Grippesymptome. «Ich nahm eine Dafalgan-Tablette und unterrichtete weiter. Die nächsten zwei Nächte arbeitete ich in Sitten. Ich sagte zu meinen Mitarbeitenden, dass ich mich nicht so gut fühle, sah aber keinen Grund zu Hause zu bleiben», erzählt Regula Treyer. Tags darauf war sie mit Kolleginnen zum Klettern in Salgesch verabredet. «Klettern ging noch. Auf ein Bier wollte ich dann aber nicht mehr mit. Ich musste nach Hause und ins Bett. Ich fühlte mich nicht wohl», sagt sie.
Am nächsten Tag meldete sie sich bei der Arbeit krank. Am Tag darauf ging es ihr noch schlechter. Als sie erwachte, sah sie doppelt und hatte eine Nackenstarre. «Da realisierte ich, dass es sich nicht bloss um ein einfaches Unwohlsein handelte.» Der Hausarzt überwies sie umgehend ins Spital. Am nächsten Tag konnte sie ihre rechte Seite nicht mehr bewegen und sie verlor zusehends an Kraft. Von den folgenden Tagen weiss sie kaum mehr etwas.
Die Diagnose lautete: Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME), eine virale Erkrankung als Folge eines Zeckenbisses. Sie wurde in die Intensivstation nach Sitten verlegt. Neurologische Reflexe zeigte sie dort zeitweise keine mehr. Ihr Stammhirn, das Rückenmark und die peripheren Nerven auf der rechten Seite waren betroffen und hochgradig entzündet. «Meine Töchter sind Pflegefachfrauen. Die wissen, was so ein Befund bedeuten kann. Ich erinnere mich, dass eine meiner Töchter am Bett stand und weinte», sagt Regula Treyer. Nach und nach bemerkte sie ihren völlig hilflosen Zustand. Schmerzen quälten sie. Sie konnte den Kopf nicht halten, sich nicht drehen und ihre rechte Seite spürte sie gar nicht mehr. «Ich versuchte zu verstehen, was da vor sich ging. Ich geriet zunehmend in völlige Panik. Ich fühlte mich wie in einem Gefängnis, aus dem es keinen Ausweg mehr gab», erinnert sie sich. Ihre Welt war auf ein kleines Blickfeld reduziert. Die Angst, alles, was ihr etwas bedeutete, verloren zu haben, machte sich breit.
Doch allmählich begann sie wieder Kontakt zur Umwelt aufzunehmen. Aus den mitleidigen Blicken und Reaktionen von Besuchern und Pflegefachpersonal konnte sie ablesen, in welchem Zustand sie sich befand. Die Aussage des Chefarztes war auch nicht ermunternd: «Frau Treyer, Sie wissen, dass man die Krankheit FSME nicht behandeln kann. Vielleicht bleiben diese Lähmungen bestehen. Wir wissen nicht, was wir Ihnen prognostizieren können.»
Während den schönsten Sommertagen sass sie in einem Rollstuhl mit Nackenlehne im Spital von Sitten. Ein Frühstücksbrot selbst streichen, aufstehen, ein paar Schritte gehen – undenkbar. «Das ist es gewesen. Du bist und bleibst gelähmt. Damit musst du dich jetzt auseinandersetzen. Diese Gedanken kreisten in meinem Kopf.»
Ihr Lebenspartner, ihre Töchter, Grosskinder, Schwiegersöhne, Geschwister, Familie und Freunde haben ihr in dieser Zeit sehr geholfen. Während sie mit dem Herrgott haderte und ihm vorwarf, ihr alles genommen zu haben, blieben ihre Nächsten positiv und ermutigten sie, den nächsten noch so kleinen Fortschritt anzustreben.
Kampf zurück ins Leben
Irgendwann kehrte ihr Lebenswille zurück. Sie wollte kämpfen. Sie wollte ihr altes Leben zurück – und sie wollte wieder in die Berge. Die Berner Klinik für medizinische und neurologische Rehabilitation in Montana hat den Ruf, von ihren Patienten einiges abzuverlangen. Da wollte sie hin. Unbedingt. Auf der Fahrt nach Montana zogen die Bilder so rasch an ihr vorbei, dass sie nicht in der Lage war, alles aufzunehmen. Sie fühlte sich wie ein Häufchen Elend – wie eine uralte gebrechliche Frau. «Ich definierte mich immer über einen starken, trainierten Körper, der mir gehorcht, mit diesem schwachen Leib wusste ich nichts anzufangen», sagt sie.
Der Durchhaltewille, den sie vom Bergsteigen kannte, rettete sie. Sie übte jeden noch so kleinen Bewegungsablauf bis zum Gehtnichtmehr. Sie lernte, den Kopf zu halten, zu stehen, zu gehen, sich hinzusetzen und wieder aufzustehen. Als es ihr endlich gelang, in die Pedale zu treten, strampelte sie zig Kilometer auf einem Hometrainer. Doch ihr Körper versagte ihr immer wieder den Dienst. «Das erste Mal zurück an einer Kletterwand in Montana habe ich geweint. Auf dem ersten Tritt ging es einfach nicht mehr weiter. Ich konnte den Arm nicht heben.» Bei all diesen Rückschlägen hielt sie am Wunsch fest, irgendwann wieder aus eigener Kraft in die Berge zu gehen und ihren Enkelkindern diese wundervolle Welt zu zeigen. «Ich habe Demut und Geduld gelernt. Ich musste mir eingestehen, dass man zwar vieles erkämpfen kann, aber eben doch nicht alles. Manches ist nicht in unserer Hand», spricht sie über ihre Erkenntnisse.
Nach einem Monat im Spital und neun Wochen in der Rehaklinik wollte sie nach Hause. Zusammen mit ihrem Lebenspartner setzte sie ihr Training fort. «Er wurde zu meinem Coach und zu meiner Referenzperson. Seine positive Art zog mich hoch und motivierte mich. Er setzte den Massstab laufend höher an und forderte mich: ‹Du kannst das, komm, das machen wir.›» Zuerst lief Regula Treyer mit ihrem Partner über asphaltierte Wege, dann nahmen sie unebene Wege mit Wurzeln oder Steinen in Angriff. Sie musste lernen, wie man über eine Wasserleite steigt. Nach Langem war sie wieder so weit, dass sie einfachste Wanderwege gehen konnte: in doppelter Zeit als angeschrieben zwar, aber dennoch ein Erfolgserlebnis.
Eiserner Wille
Auch ans Skifahren und an Skitouren wagte sie sich wieder. Auf mit «leicht» markierten Pisten übte sie jeden Bewegungsablauf neu. «Als ich das erste Mal wieder mit meinen Bergkolleginnen auf eine leichte Skitour wollte, stiess ich an meine Grenzen. Ich habe am Morgen zuerst absagt. Mich so schwach zu zeigen und auf ihr Verständnis angewiesen zu sein, konnte ich fast nicht ertragen», erzählt sie. Ihre Bergkolleginnen fingen sie auf und sagten zu ihr: «Ach, Regula, wir mögen dich nicht nur, weil du so sportlich bist. Wir haben dich auch sonst gern. Du kommst mit!» Dieses Verständnis habe ihr total gutgetan. Auch als sie wieder mit einem Teilpensum zurück im Berufsleben Fuss fasste, traf sie auf sehr viel Verständnis und Hilfsbereitschaft. So konnte sie Selbstvertrauen aufbauen und das Pensum allmählich erhöhen. «Beim Unterrichten in der Fachhochschule für Pflege kann ich die Erfahrung der völligen Hilflosigkeit einbringen. Ich weiss jetzt, wie sich viele Patienten fühlen», sagt sie ernst.
Dem Herrgott danken
Regula Treyer hat sich mit eisernem Willen und Hartnäckigkeit wieder ins Leben zurückgekämpft. Eine Leistung, die Respekt verdient. Sie schätzt, dass sie bereits 80 Prozent ihrer Kraft und Beweglichkeit zurückgewonnen hat. Manchmal erscheint ihr das wie ein Wunder. «Mein grosses Ziel ist es, noch einmal auf dem Bietschhorn zu stehen. Das wäre für mich der Beweis, dass ich es ganz geschafft habe.» Und die offene Rechnung mit dem Herrgott? «Wenn ich ihm denn dereinst begegne, laufe ich ihm entgegen, umarme ihn und bedanke mich bei ihm, dass er mir meine Beine wiedergegeben hat», sagt Regula Treyer.
Nathalie Benelli
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