Gesellschaft | Eine Jahresend-Geschichte über eine Beziehung

Der Sport, meine Mutter und ich

Immer dabei. Ein Spiel auf der Eisbahn in Saas-Fee 2013, meine Mutter als Siebente von rechts.
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Immer dabei. Ein Spiel auf der Eisbahn in Saas-Fee 2013, meine Mutter als Siebente von rechts.
Foto: Christoph Ruckstuhl, NZZ

«Die Goitschel». 1959 als Siebenjährige auf den Skiern.
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«Die Goitschel». 1959 als Siebenjährige auf den Skiern.
Foto: privat

Vereinsleben. Als Köchin in einem Fussballlager 1999.
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Vereinsleben. Als Köchin in einem Fussballlager 1999.
Foto: privat

Quelle: WB 30.12.19 0
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Früher reisten wir zu den grossen Stadien in Rom, Paris und New York. Heute ist meine Mutter mein einziger Fan, wenn ich für die Dorfmannschaft Eishockey spiele.

In diesen Tagen sassen meine Mutter und ich bei der Tante am Mittagstisch. Ich erzählte von der Eishockeysaison, die für mein Team bald beginnen würde. Meine Mutter räusperte sich und sagte: «Ich dachte, du wolltest zurücktreten.» Die Bemerkung verstimmte mich, ich sagte: «Ich spiele noch, weil du mich nicht aufhören lässt.»

Ich spiele Eishockey in der regionalen Meisterschaft, im Klub des Heimatdorfs. Ich bin fast der Älteste im Team. Jedes Jahr nach Saisonschluss verkünde ich das Ende der Karriere. Und jedes Jahr sagt meine Mutter: «Sie sind zu wenig, sie brauchen dich. Eine Saison musst du noch dranhängen.»

Meine Mutter wünscht sich, dass ich im Sportverein bleibe: Es ist die einzige ausgesprochene Erwartung an mich. Sie würde nie eine Heirat von mir fordern oder einen Wohnortwechsel. Sie weiss, was uns fehlen würde, würde ich aufhören mit dem Sport. Ich weiss es auch.

Der Sport hat unsere Beziehung geprägt und prägt sie bis heute. Die Mutter ist eine Sport-Mutter, sie war es immer, auf eine sehr eigene Weise. Manche Familien reden zu Hause am liebsten über Politik, manche über die Arbeit, manche über die News von RTL. Meine Mutter und ich sprechen über Sport.

«Freude, weil du Freude hattest»

Meine Erinnerungen an die Kindheit sind Erinnerungen an den Sport. 1992 kaufte mir meine Mutter einen Eishockeystock der Marke Montreal für 89 Franken. Ich kürzte ihn mit der Säge. Meine Mutter sagte: «Er hat so viel gekostet. Bald ist er für dich zu klein.» 1994 kaufte meine Mutter mir das erste Fussballleibchen von Juventus, auf dem Dom-Platz in Mailand für 20000 Lire. Ihr gefiel der Danone-Schriftzug auf der Brust. 1996 stand ich unter dem Schirm der Mutter im Wankdorf-Stadion in Bern. Der FC Sitten gewann den Cup-Final gegen Servette 3:2.

Oft hörte ich am Abend Radio Rottu im Bett, die Live-Schaltungen zu den 1.-Liga-Spielen im Walliser Eishockey. Ich dachte zum ersten Mal daran, Sportjournalist zu werden. Meine Mutter sagte: «Du bist viel zu lange wach.» Später fuhr sie mit dem roten VW-Golf an meine Auswärtsspiele im Fussball. Wenn wir gewannen, durften wir zu McDonald’s in Gamsen. Sonst auch.

Als meine Mutter jung war, war sie eine Draufgängerin. Sie gewann einmal ein Skirennen, obschon sie ohne Handschuhe und Stöcke gefahren war. Das war in den 1960er-Jahren. Sie wurde von den Skilehrern im Dorf «die Goitschel» genannt, in Anlehnung an die Französin Marielle Goitschel, eine Olympiasiegerin und Weltmeisterin.

Meine Mutter mag den Sport seit je. Doch die Regeln sind ihr fremd, es geht ihr alles zu schnell. Manchmal, wenn sie ein Eishockeyspiel von mir besucht, hat sie das Resultat zu Hause schon vergessen. Sie erzählt dann, was sie von anderen gehört hat: «Der Claude war auch da. Er hat gesagt, du habest ein Tor geschossen.»

Ich glaube, meine Mutter hat früh durchschaut, dass es im Sport um mehr geht als um Sieg oder Niederlage. Mein Team und ich verloren unseren allerersten Fussballmatch Mitte der 1990er-Jahre in Stalden 0:11, wir waren sechs Jahre alt, meine Mutter machte Fotos. Später verloren wir ein Eishockeyspiel in Genf 1:36. Meine Mutter hat die zwei Spiele verinnerlicht. Wenn ich heute, 25 Jahre später, einen Match verliere und bekümmert bin, sagt sie: «Nur 3:5? Das geht ja noch. Wir haben schon viel höher verloren.»

Ich weiss noch, dass früher vieles schwierig war. Dass ich mich schämte für die Mutter, die an den Fussball- und Eishockeyspielen manchmal allein war unter all den fachkundigen Vätern. Dass ich fürchtete, jemand mache sich lustig über diese alleinerziehende, etwas verschrobene Frau.

Heute versteht meine Mutter als Einzige, was mir ein Eishockeyspiel bedeutet. Sie ist mein einziger Fan. Meine Freunde bleiben den Spielen fern. Meine Kollegen und Kolleginnen im Büro lächeln gelangweilt, wenn ich vom letzten Sieg erzähle. Nur meine Mutter ist immer interessiert. Der Sport ist unsere Verbindung, unser grosses Ritual, doch wir haben kaum je darüber geredet. Als ich sie einmal fragte, was ihr der Sport bedeute, sagte sie: «Ich hatte immer Freude, weil du Freude hattest.»

Meine Mutter und ich machten nie gemeinsam Ferien am Strand. Was hätten wir dort gewollt? Sie führt auf kariertem Papier eine Liste mit den Orten, die wir für den Sport besucht haben. Ein Auszug:

1996: Lausanne, Match im Stadion. München, Olympiastadion.

2000: Paris, Besuch Stade de France. Besuch Eishalle Langnau.

2004: Champions League in Turin, Stadio delle Alpi. Eishockey in Freiburg.

2010: Stadion anschauen in Lyon. Match in Basel.

2013: Match in Frankfurt im Stadion.

2018: Besuch des Eishockeystadions in Washington.

Ich weiss noch, wie meine Mutter einmal in einem Café in Verona das Magazin «Sportweek» durchblätterte und mir einen jungen, dunkelhaarigen Goalie im Dress der AC Parma zeigte. Ab diesem Moment begleitete uns Gianluigi Buffon durch meine Kindheit und Jugend. Und wir begleiteten ihn. Nach Turin, Mailand, Piacenza, Bologna. Einmal, bei einem entscheidenden Spiel in Rom, waren die Tickets auf dem Schwarzmarkt so teuer, dass meine Mutter vor dem Stadion wartete. Als das Spiel vorbei war und ich zurück, sagte sie, sie habe die Tore gehört.

In St. Petersburg staunte meine Mutter mehr über die Plattenbauten vor dem Eishockeystadion als über den Match. Im Madison Square Garden in New York erfreute sie sich am grossen Video-Würfel und an der Animation. Sie starrte beharrlich auf den Würfel, das Eishockeyspiel lief an ihr vorbei. Sie kam an viele Orte mir zuliebe.

Umgekehrt war es lange anders: Ich blieb draussen sitzen, las eine Sportzeitung, spielte auf dem Gameboy, wenn meine Mutter in Barcelona das Miró-Museum besuchte oder in Hamburg durch Bücherläden schlenderte. Irgendwann merkte ich: Unsere Beziehung war durch den Sport sehr einseitig verlaufen.

Heute schicke ich meiner Mutter eine Nachricht, wenn mir ein Buch gefällt. Und sie sitzt manchmal am Nachmittag in einem Café in unserem Dorf, liest eine Zeitung. Sie entdeckt dann im Sportteil eine Notiz und schickt mir eine SMS. «Nico Hischier hat in Amerika ein Goal geschossen», schrieb sie jüngst. Ich hatte die Meldung 30 Stunden zuvor auf meinem Smartphone weggewischt, doch jetzt erhielt sie einen neuen Wert, weil meine Mutter sie mir mitteilte.

Meine Mutter sah im Sport immer auch eine Absicherung, dass ich nicht auf die sogenannte schiefe Bahn geraten würde. Das Saufen nach den Trainings und Spielen verzieh sie mir. Ich glaube, es war ihr wichtig zu wissen, wo ich war.

«Ich komme dann»

Als ich in einem schwierigen Alter war und aufhören wollte mit dem Eishockey, sagte meine Mutter jedes Jahr, sie habe den Jahresbeitrag schon bezahlt. Ein Jahr müsse ich noch machen. Später erfuhr ich, dass sie immer erst bezahlt hatte, nachdem ich wieder ins Training gegangen war.

Einmal in dieser Zeit kaufte mir meine Mutter im Sportgeschäft in Saas-Grund neue Schlittschuhe, das Modell Supreme der Marke Bauer. Sie, die wenig Geld hatte, bezahlte 900 Franken in bar. Ich war gerührt. Erst später wurde mir klar, dass diese Schlittschuhe eine Verpflichtung waren. Viele Jahre waren sie Mutters stärkstes Argument gegen das Aufhören.

Heute freut sich meine Mutter, dass ich Sportjournalist geworden bin, reisen und berichten kann. Sie sagt oft: «Dein Grossvater hat immer die Zeitung ‹Sport› gelesen.» Sie ist froh, dass mir der Sport geblieben ist – und ich bin es auch. Doch vielleicht überdeckt der Sport bei uns auch etwas.

Es gibt Themen, über die wir nicht gut reden können. Die Liebe, meinen Erzeuger, die Familie, die schweren Dinge. Verhindert der Sport, dass wir uns mit uns selbst beschäftigen? Oder besprechen wir über den Sport das Existenzielle? Jede Niederlage als eine gemeinsame Enttäuschung, die man aushalten muss? Und jedes Trikotwaschen als Geste der grössten Zuneigung?

Jetzt, über Weihnachten, bestreiten wir jeden zweiten Tag ein Eishockeyspiel. Meine Mutter hat es schon allen im Dorf erzählt. Immer, wenn ich vor einem Match zu Hause bin, kocht meine Mutter Teigwaren mit Poulet. Ich streune durch die Wohnung, packe mein Zeugs, ringe mit Unruhe und Ungeduld. Dann gehe ich zur Türe und sage: «Adieu, Mutter.» Ich warte, bis sie zur Türe kommt. Mit etwas Abstand steht sie da, verschränkt die Hände vor ihrem Bauch. «Machs gut», sagt sie, «ich komme dann.»

Will meine Mutter, dass ich im Verein bleibe, weil ich für die Vereine immer wieder aus Zürich nach Hause komme? Ist für sie der Sport die letzte Chance, mich nicht nur als ihren Sohn zu haben, sondern für Stunden auch als ihr Kind?

Meine Mutter schenkt mir noch immer jede Weihnacht einen selbst gebastelten Gutschein für einen Eishockeystock. Sie wäscht oft die Leibchen des Fussball-Teams, stopft die Löcher in den Socken. Es ist ihr Beitrag ans Vereinsleben, dem sie sich immer verwehrt hat. Als ich sie kürzlich fragte, ob ich mir irgendwann einen Verein in Zürich suchen solle, sagte sie: «Das wäre eine Möglichkeit. Aber bei uns im Dorf gibt es auch
Seniorenteams.»

Der Text erschien am 24. Dezember in der «Neuen Zürcher Zeitung». Samuel Burgener ist Redaktor der «Neuen Zürcher Zeitung».

Samuel Burgener
30. Dezember 2019, 16:50
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