Staatsrat | Reise in ein überfordertes und korruptes Land
Horizonterweiterung?

Gruppenfoto. Die Walliser Regierung vor der Schweizer Botschaft in Tunis.
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Sitten | Auf den ersten Blick ist es nicht ganz ersichtlich, warum die Regierung drei Tage im heissen Tunis verbrachte. Und auf den zweiten?
Tunesien war einst mal beliebtes Ferienziel. Doch nach mehreren Anschlägen der Extremistenmiliz Islamischer Staat ist die Zahl an Urlaubern gesunken. 2015 reisten noch gerade 5,3 Millionen europäische Touristen in das nördlichste Land Afrikas. Derweil scheint sich die Lage wieder zu entspannen: Die Regierung rechnet für 2018 mit einem Anstieg und der Rekordzahl von rund acht Millionen Touristen. Darunter auch eine kleine Walliser Delegation.
Migration und Kultur
Die Kantonsregierung in corpore, samt Staats- und Vizekanzler und begleitet von vier Ehepartnern, begab sich Mitte August auf eine dreitägige Reise in den Maghreb. Diese Studienreisen haben Tradition. So war der Staatsrat in der Vergangenheit etwa in den Nachbarländern Österreich, um sich mit dortigen Tourismusmodellen zu beschäftigen, zum Thema Energie ging es nach Deutschland. Oder nach Rom, mit dem Reisethema Kirche und der Vereidigung der Schweizergarde als Höhepunkt. Alles Themenbereiche mit einem direkten Bezugspunkt zum alltäglichen Leben im Kanton.
Sinn und Zweck der Tunesien-Reise erschliesst sich derweil nicht direkt. Das Programm, das von der Schweizer Botschaft und deren Abteilung Internationale Zusammenarbeit ausgearbeitet worden ist, legte den Schwerpunkt auf Tätigkeiten «zugunsten von Migranten und auf die Rolle der Kultur als Träger für Bildung, soziale und wirtschaftliche Entwicklung», wie es offiziell heisst. Migration und Kultur also. Für Ersteres ist der Bund zuständig. Für das andere bald mal jeder: Bund, Kanton, Gemeinden.
«Mangel an Arbeitsdisziplin»
«Die Betreuung von Flüchtlingen in ihrem Herkunftsland hat direkte Auswirkungen auf die Asylpolitik der Schweiz und somit auf die Kantone», begründet Staatsratspräsidentin Esther Waeber-Kalbermatten das ausgewählte Reiseziel. Die Schweiz und Tunesien haben seit sechs Jahren eine Migrationspartnerschaft. Das Land am Mittelmeer soll sich etwa bei Rückschaffungen seiner Bürger kooperativ zeigen. Im Gegenzug gibt es unter anderem Ausbildungsplätze in der Schweiz für junge Tunesier. Tunesien, das nur rund 140 km von Sizilien entfernt liegt, ist ein Durchgangsland von Migranten. Und gerät zunehmend unter Druck, da Italien seine Häfen schliesst. Die Flüchtlinge weichen via Maghreb nach Frankreich und Spanien aus. Auch viele Jugendliche, so Waeber-Kalbermatten, wollen das Land verlassen. Da der Kanton die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA finanziell bei gewissen Projekten in Afrika – nicht aber in Tunesien – unterstütze, sei es deshalb aufschlussreich gewesen, deren Arbeit auch mal vor Ort zu sehen. Quasi als Horizonterweiterung.
Von den Maghreb-Staaten Algerien, Tunesien oder Marokko ist derweil keiner bereit, Aufnahmezentren für Migranten einzurichten. Anfang August sagte Ridha Fraoua in der «NZZ am Sonntag», dass es Tunesiens Regierung schwer habe, die illegale Migration zu bekämpfen, zumal die Infrastruktur schlecht sei und man sich in erster Linie auf die Bekämpfung des Terrorismus fokussiere. Der Maghreb-Experte ging im Interview noch weiter und wies auf die Korruption im Land hin. Dazu komme just in Tunesien ein «Mangel an Produktivität, an Arbeitsdisziplin und an Effizienz sowohl auf staatlicher wie auch auf privater Ebene», so der schweizerisch-tunesische Doppelbürger und Jurist. «Die Hauptsorge der Menschen dort ist, genügend Strom, Trinkwasser und Milch zu haben.» Fraoua kritisiert auch die erwähnte Migrationspartnerschaft. Gerade mal 45 junge Tunesier hätten seit 2012 einen Stage in der Schweiz machen können, anfangs sei von 150 Stagiaires im Jahr die Rede gewesen. «Da wundert es nicht, dass Tunesien das Gefühl hat, auf diese Weise nicht auf seine Rechnung zu kommen.»
1000 Franken pro Kopf
Von solchem zwischenstaatlichen Zwist ist im Reisebericht der Walliser Delegation freilich nichts zu lesen. Mit El Warcha und Interference habe man zwei von der DEZA unterstützte Projekte besucht, sagt Esther Waeber-Kalbermatten zum kulturellen Teil der Studienreise. El Warcha ist ein allen offenstehendes Kunstatelier in der Medina von Tunis, Interference ein Lichtkunst-Festival. Beide würden zur «kulturellen Identität» von Tunesien beitragen, ist die Staatsratspräsidentin überzeugt. In Gesprächen mit verschiedenen Vertretern von Tunesien sowie der Schweizer Botschaft habe die Walliser Regierung zudem erfahren, wie seit den Aufständen von 2010/2011 der demokratische Prozess im Land gestärkt worden sei. Fraoua sieht das anders. Der Bürgersinn sei in Tunesien weitgehend verloren gegangen, sagt er. In Tunesien mache jeder, was er will. «Es herrscht eine Mentalität des ‹Je-m’en-foutisme›.» Für die meisten Menschen gehe es um das nackte Überleben.
An den Projekten in Tunesien ist der Kanton nicht direkt beteiligt. «Unsere konkrete Unterstützung konzentriert sich auf ärmere Länder in Zentralafrika», so Waeber-Kalbermatten. Die Gesamtkosten des Ausflugs beziffert sie zwischen 7000 und 9000 Franken, darin inbegriffen sind Flug, die Unterkunft, die Mahlzeiten und die Bustransporte vor Ort. Für die sieben Offiziellen macht das rund 1000 Franken pro Person. Die Partner hätten ihre Reisekosten selbst übernommen.
David Biner
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