Wirtschaft | Gemeinden und Unternehmen klären Bedürfnisse von 10 000 zusätzlichen Walliser Einwohnern ab
Was tun, damit das Oberwallis nicht überrannt wird?
Wallis | Das Oberwallis boomt, zumindest in der Industrie. An die zehntausend Menschen werden in den nächsten Jahren neu in die Region ziehen. Mit dem Projekt WIWA Wallis wollen sich Wirtschaft und Gemeinden für diese Entwicklung rüsten. Erwartet wird ein Wirtschaftswachstum in lange nicht mehr gesehenem Ausmass.
Das Wachstum
«Erst wenige haben wahrscheinlich eine Ahnung davon, was hier in den nächsten Jahren ablaufen wird», glaubt Marc Franzen vom Regions- und Wirtschaftszentrum Oberwallis (RWO AG). Und führt aus: 4000 gut ausgebildete Fachkräfte sollen innerhalb der nächsten Jahre neu in die Region ziehen; zusammen mit deren Familien entspricht dies einem Bevölkerungszuwachs von bis zu 10 000 Personen. Bei seiner heutigen Einwohnerzahl von gut 85 000 Menschen wird das Oberwallis damit innert kurzer Zeit um mehr als zehn Prozent wachsen.
Ein gewaltiger Schritt, der auf die Hunderten in Rente gehenden und zu ersetzenden «Babyboomer» in zahlreichen Firmen zurückzuführen ist. Und, natürlich: auf das Ibex-Projekt der Lonza. Wobei sich deren neue Angestellte nicht nur in Visp niederlassen werden. Bereits heute leben weniger als ein Drittel der Lonza-Mitarbeiter dort. Auch die zukünftigen Mitarbeiter des Unternehmens werden sich in der ganzen Region verteilen. Ihnen schliessen sich die zahlreichen weiteren Fachkräfte an, die in anderen Branchen gesucht werden. Eine solch gewaltige Entwicklung will gut vorbereitet sein, wollen Unternehmen und vor allem auch die Gemeinden von ihren neuen Mitarbeitern und Einwohnern nicht plötzlich überrannt werden. Der Anstoss fürs Projekt WIWA (Wirtschaftswachstum) Wallis war gemacht.
Auftraggeber sind einerseits die drei grossen Talgemeinden Brig-Glis, Naters und Visp sowie mit Lonza, dem Spitalzentrum Oberwallis, der Scintilla und der MGBahn vier der grössten Arbeitgeber der Region. Komplettiert wird der Steuerungsausschuss durch das Netzwerk der Oberwalliser Berggemeinden, den Verein Region Oberwallis sowie von Business Valais, vertreten durch Staatsrat Christophe Darbellay. Als Projektleiterin fungiert die RWO AG.
«Diese Leute werden definitiv kommen, und das ist eine Riesenchance für die ganze Region», glaubt Projektleiter Franzen. Angst sei fehl am Platz; der Kuchen genügend gross, um alle am Wachstum teilhaben zu lassen.
Das Gesamtpaket
Einige sind natürlich bereits da. Andere folgen in Kürze, weiss der Projektleiter und verweist auf das Beispiel einer Kita, die gerade Anfragen aus Skandinavien erhalten hat. Ebenso ist auch der Fachkräftemangel bereits eine Realität. Nicht nur bei Lonza, sondern auch beim Spitalzentrum Oberwallis oder bei der MGBahn. Letztere bekundet beispielsweise Mühe, gewisse Stellen in den Peripherien Andermatt und Zermatt zu besetzen.
Wobei es nun aber nicht das Ziel sei, die Rekrutierung für diese Firmen zu übernehmen. Darin seien die Unternehmen selbst spezialisiert genug. Oder, genauer gesagt: «Lonza hat zwar kein Problem damit, potenziellen Bewerbern das Unternehmen an sich zu verkaufen. Schwieriger ist es, diesen Leuten zu erklären, wo das Wallis genau liegt und was es als Wohn- und Lebensraum zu bieten hat», sagt RWO-Geschäftsleiter Roger Michlig. Dabei muss sich eine auswärtige Fachkraft ja nicht bloss für eine neue Arbeitsstelle entscheiden, sondern auch für ein neues Land, eine neue Kultur, einen neuen Lebensabschnitt. Das Projekt WIWA Wallis zielt deshalb darauf ab, das Gesamtpaket «Leben und Arbeiten im Wallis» zu verkaufen.
Beispiele, wo konkret angesetzt werden kann, gibt es unzählige. Stehen genügend Wohnraum und Mobilitätsdienstleistungen zur Verfügung? Wie sieht es aus mit der medizinischen Versorgung, mit Kita-Plätzen? Braucht es längere Öffnungszeiten, zusätzliche Heimlieferdienste, weitere Reinigungsleistungen oder ein Shared-Office-Angebot? Nicht zu vergessen die sogenannten «weichen» Faktoren: Fühlt sich eine zugezogene Person willkommen, kann sie sich gut ins Dorf- und Vereinsleben integrieren? All dies gelte es, in den nächsten rund drei Jahren abzuklären und fehlende Angebote gegebenenfalls bereitzustellen. Wie viel die Projektträger während dieser Zeit in WIWA Wallis investieren werden, hängt dabei freilich von den Leistungen ab, die realisiert werden sollen. Elf Teilprojekte sind bislang lanciert, für die initiale Phase rechnet man bei der RWO AG mit einem Budget von knapp
100 000 Franken.
«Natürlich würden diese Fachkräfte auch ohne unsere Arbeit herkommen. Dann wird es aber einige Haurück-Übungen geben, um zum Beispiel auf die Schnelle 50 neue Kita-Plätze anzubieten», sagt Projektleiter Franzen. Und weiss gleichzeitig, dass WIWA Wallis nicht selbst sämtliche Angebote auf die Beine stellen kann. In einigen Bereichen könne man lediglich sensibilisieren. Etwa, was das Bedürfnis nach auswärtiger Verpflegung angeht. «Grundsätzlich erwarten diese Leute ein ähnliches Angebot, wie sie es aus urbaneren Gebieten bereits gewohnt sind», glaubt er.
Das Ankommen
Um die genauen Bedürfnisse abzuklären, werden auswärtige Fachkräfte, die bereits heute in der Region leben, befragt. Zudem sollen einige Neuankömmlinge während ihrer ersten Zeit im Wallis begleitet werden. Ziel ist es, die grössten Stolpersteine zu identifizieren, die vor und nach dem Umzug ins Wallis auf sie lauern. Wo informiert man sich über verfügbare Wohnungen? Wie meldet man sich bei einer Krankenkasse an? Und wie läuft das mit den Steuern in der Schweiz? «Für solche Fragen ist oftmals der Personalchef des Unternehmens die erste Anlaufstelle», sagt Franzen.
Das soll sich ändern. Eine der ersten Aufgaben sei die Einrichtung eines zentralen «Welcome-Desk» in der Talebene, später eventuell ergänzt durch Satelliten in den Seitentälern. Daneben muss dieses Beratungsangebot auch online abrufbar sein. Ziel ist es, ein Angebot zu schaffen, welches die ausländischen Fachkräfte von der mühsamen Arbeit befreit, sich die benötigten Informationen selbst und auf unzähligen verschiedenen Webseiten und Anlaufstellen beschaffen zu müssen. Kurz gesagt: Geplant ist eine Art Gebrauchsanweisung für den Umzug ins und das Leben im Wallis.
Nicht vergessen gehen darf dabei auch die Sprache. Eine Person, die bei einer hiesigen Schule eine Anfrage auf Englisch stellt, muss auch eine sprachlich einwandfreie Antwort erhalten. Nun gehe es natürlich nicht darum, dafür zu sorgen, dass nur noch gut Englisch Sprechende in den Schuladministrationen arbeiten, erklärt Roger Michlig. «Sondern dass wir ihnen aufzeigen können und sie wissen, an wen sie sich im Bedarfsfall wenden können.»
Das grosse Ganze
Die Devise müsse von nun an lauten: Wallis öffne dich. Kein Problem sollte dies für die Zuzüger sein. «Diese interessieren sich nicht für Gemeindegrenzen. Ein Arbeitsweg von einer Stunde ist für viele normal; an den Wochenenden bewegen sie sich in einem Radius von drei oder vier Stunden. Viele von ihnen kennen das Wallis wahrscheinlich besser als wir selbst», erklärt Franzen.
Diese Bereitschaft zur Mobilität sei es denn auch, die das Wallis ausspielen müsse. In drei, vier Stunden lässt es sich schliesslich in die Berge, in eine Stadt oder gar ans Meer reisen. «Die Walliser Unternehmen wissen ganz genau, dass nicht alle in unserer Region leben wollen. Aber es gibt eine Zielgruppe, die qualifizierte Arbeitsstellen sucht und gleichzeitig einen grossen Teil ihrer Freizeit in der Natur verbringen möchte. Für diese wollen wir unsere Alleinstellungsmerkmale in Szene setzen.»
«Wallis öffne dich» soll zugleich – und das dürfte vielleicht eher eine Herausforderung werden – auch für die Walliser selbst gelten. Ausdruck dieses Wunsches ist bereits der Projektname, der als WIWA Wallis und nicht als WIWA Oberwallis daherkommt. Schliesslich sei es wahrscheinlich, so die Erklärung, dass einige der neuen Fachkräfte auch jenseits der Sprachgrenze, oder gar in Spiez und Thun, ein Zuhause finden würden.
Oder, wie es Michlig ausdrückt: «Wir müssen auf einem Auge blind werden, die Gemeindegrenzen nicht mehr sehen.» Zur Veranschaulichung nennt er das Beispiel einer Gemeinde, welche den Lonza-Rekrutierern bereits eine Broschüre mit den Vorzügen des eigenen Dorfes zugespielt hat. Lobenswert eigentlich – doch täten dies alle, hielte der Bewerber am Ende wiederum 60 Prospekte in den Händen und wüsste immer noch nicht, wo er sich niederlassen soll. Michlig dazu: «Zusammenarbeit wird oftmals nur gepredigt. Mit diesem Projekt haben wir nun wirklich die Chance darauf – wir werden schon fast dazu gezwungen.»
Fabio Pacozzi
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