Gesellschaft | Veronika Lutz hat sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen

«Ich habe es keine Sekunde lang bereut»

Heute: Veronika Lutz in Blitzingen. Damals: Reinhard Lutz am Schmelzofen.
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Heute: Veronika Lutz in Blitzingen. Damals: Reinhard Lutz am Schmelzofen.
Foto: 1815.ch/zvg

Quelle: 1815.ch /map 23.04.16 5
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Turbulente Jahre liegen hinter Reinhard Lutz: Eine schwierige Kindheit, Karriere in der Giesserei-Branche, Heirat und fünf Kinder, drei Burnouts – verbunden mit Selbstmordgedanken. Heute heisst Reinhard Veronika, hat sich in Blitzingen niedergelassen und fühlt sich als Frau glücklicher denn je zuvor.

Ein Treffen in der Taverne «Zum guten Freund» in Blitzingen. Veronika Lutz – Vroni für Freunde und Bekannte – sitzt schon am Tisch, ein sympathisches Lächeln auf den Lippen, die blonden Haare sorgfältig geföhnt, das Gesicht dezent geschminkt und die Nägel maniküriert. Am Morgen sei sie für das Treffen extra noch bei Coiffeur und Kosmetikerin gewesen, erzählt sie und lacht. Ein herzhaftes Lachen, welches nicht vermuten lassen würde, auf welchen Leidensweg die 62-Jährige zurückblickt.

«So schnell wie möglich eine Frau suchen»

Geboren ist Veronika nämlich als Reinhard Lutz im Zürcher Oberland. «Relativ schnell habe ich gemerkt, dass bei mir etwas nicht stimmt. Schon als kleines Kind habe ich mich immer gefragt, warum ich kein Mädchen sein kann.» Diese Gefühle seien stetig intensiver geworden, bis zur Pubertätsphase, als der Junge sich seinem Vater anvertraute und fragte, ob man da nicht etwas machen könne, er fühle sich nicht wohl in seinem Körper. «Zu der Zeit war das ganz anders als heute. Es hiess: Dann müssen wir dich in eine Psychiatrie einweisen. Zu allem Elend war mein Vater Direktor eines grossen Konzerns. Das hat natürlich gar nicht in seine Welt gepasst.»

Als die Zeit kam, eine Berufslehre zu ergreifen, entschied sich Reinhard für Kaminfeger und Dachdecker. «Das Gefühl, im falschen Körper zu stecken, wurde aber immer stärker. Die Eltern meinten, ich solle mir so schnell wie möglich eine Frau suchen, damit ich nicht mehr auf solche Gedanken komme.» Das tat Reinhard. Im zarten Alter von 21 Jahren heiratete er, wurde in den Jahren darauf Vater und stieg mit 23 schliesslich in die harte Giesserei-Branche ein. Damit war das Thema für lange Zeit vom Tisch – vordergründig.

«Karriere, Alkohol und Sport»

«Beruflich war ich wahnsinnig erfolgreich», erzählt Veronika nicht ohne einen gewissen Stolz. «Ich habe Tag und Nacht gearbeitet, auch am Wochenende. Nach dem Feierabend ging ich oft noch 20 Kilometer joggen. Mein Leben bestand eigentlich nur aus Karriere, Sport und Alkohol. Damit habe ich meine Gefühle unterdrückt.» Das ging so lange gut, bis der Körper nicht mehr mitmachte. Die Folge: Ein Burnout im Alter von 55 Jahren, ein zweites im Jahr darauf und schliesslich ein drittes. Selbstmordgedanken kamen hinzu.

Nach dem dritten Burnout zogen Reinhards Ärzte die Notbremse und lieferten den damals 57-Jährigen in eine Klinik ein. «Seit meiner Kindheit hatte ich dort zum ersten Mal den Mut, mich einem Arzt anzuvertrauen. Eine halbe Stunde lang liefen mir nur Tränen über die Wangen.» Reinhards Leben sollte nun eine entscheidende Wende nehmen.

«Ich vergesse diesen Tag nie mehr»

Der Prozess vor einer Geschlechtsumwandlung zieht sich normalerweise über zwei Jahre hin. Während dieser Zeit müssen Hormone eingenommen werden und der Patient begibt sich in psychiatrische Behandlung. Danach entscheiden die Ärzte, ob es zu einer geschlechtsangleichenden Operation kommt oder nicht. Bei Reinhard lief alles ein wenig anders ab: Nach dem Aufenthalt in der Klinik und einer mehrmonatigen psychiatrischen Behandlung kam es bereits zur Operation in einer Privatklinik im waadtländischen Genolier.

«Ich vergesse diesen Tag nie mehr: Ich stieg in Winterthur in den Zug ein und war unglaublich entspannt. Ich wusste, ich fahre nun als Mann nach Genolier und komme als Frau zurück.» Die sechseinhalbstündige Operation ging ohne Komplikationen über die Bühne. «Nach zehn Tagen konnte ich Heim. Da ging ich aber nicht mehr zurück nach Zürich, sondern in mein Ferienhaus in Reckingen – gemeinsam mit meiner Frau, die immer hinter mir stand. Das ist im Juni nun zwei Jahre her und ich habe diesen Schritt nie auch nur eine Sekunde lang bereut.»

Anfangs Jahr haben sich Veronika und ihre Frau in aller Freundschaft scheiden lassen. Danach hat die 62-Jährige ihren Hauptwohnsitz ins Wallis, nach Blitzingen, verlegt. Das Ferienhaus in Reckingen besitzt sie immer noch – als Sommersitz. «Ich wollte schon immer im Wallis leben, wenn ich älter bin», erklärt sie.

«Mapa statt Papi»

Die fünf Kinder seien zu Beginn freilich schockiert gewesen. «Vor allem meinem jüngsten Sohn, damals erst 16 Jahre alt, wollte ich das Gerede im Dorf eigentlich ersparen. Die Kinder verstehen und akzeptieren meinen Entscheid aber. Meine älteste Tochter nennt mich statt Papi nun Mapa.»

Negative Erfahrungen habe sie seitdem nie gemacht; nicht in Zürich und im Wallis noch weniger, betont Veronika. «Ich bin seit 25 Jahren regelmässig im Goms – früher als Reini, jetzt halt als Vroni. Einige Leute nennen mich heute noch Reini, damit habe ich kein Problem. Ein paar wenige sagten zu mir, sie könnten meine Entscheidung zwar nicht verstehen, wohl aber akzeptieren; eine sehr faire Aussage. Ich will einfach glücklich und normal als Frau leben können und das akzeptieren hier im Goms eigentlich alle.»

«Vroni, dadurch, dass du so offen auf andere zugehst, hast du natürlich ein riesen Plus. Ich habe dich immer bewundert und tue es auch heute noch», schaltet sich eine Frau am Nachbartisch ein; eine Bekannte, die das Gespräch mitbekommen hat. «Mir macht es auch selbst Freude, wenn ich mein Glück mit den Menschen teilen kann. Ich könnte die ganze Welt umarmen», erwidert Vroni. Und wieder zum Thema: «Ich komme schnell mit anderen Leuten ins Gespräch. Viele sind an meiner Situation interessiert und ich gebe gerne Auskunft. Sich im falschen Körper zu fühlen, ist noch heute ein Tabu-Thema. Das kann man ändern, wenn man mit den Menschen spricht.»

«Noch viele schöne Jahre vor mir»

Der gesamte hormonelle Prozess der Geschlechtsumwandlung zieht sich insgesamt fünf, sechs Jahre hin – in Veronikas Fall also noch gut drei Jahre. «Danach wird nicht mehr viel Männliches an mir sein.» Hormone muss sie ein Leben lang einnehmen. Durch die Hormonumstellung kämen nicht nur optisch weiblichere Züge zur Geltung: «Aufs Aussehen habe ich früher gar nichts gegeben, ich wäre wahrscheinlich im Jogginganzug an eine Hochzeit gegangen. Heute ist das ganz anders: Würde mir nun ein Fingernagel abbrechen, würde ich mich tödlich aufregen. Was ebenfalls speziell ist: Ich hatte die letzten 30 Jahre fast keine Haare mehr auf dem Kopf, durch die Östrogene sind sie nun wieder gewachsen. Deshalb trage ich auch keine Perücke mehr.» Den Bart hingegen musste Veronika weglasern lassen.

Groll hegt die 62-Jährige keinen, wenn sie an ihre Vergangenheit denkt: «Ich war zwar ein Leben lang nicht glücklich, konnte aber beruflich alles erreichen, habe fünf Kinder und inzwischen vier Grosskinder. Das möchte ich nicht missen. Zudem war die Medizin vor 50 Jahren auch noch nicht soweit wie heute. Und ich habe ja jetzt noch viele schöne Jahre vor mir. Ich bin glücklich mit meinem Körper, voller Lebensfreude, gehe viel wandern und treffe mich mit Kollegen.»

Hingezogen fühlt sich Veronika immer noch zum weiblichen Geschlecht. «Mein männlicher Körper hat mich stets abgestossen. Der weibliche Körper hingegen hat mir immer gefallen. Im Moment lebe ich alleine – ich wäre aber nicht abgeneigt, eine Freundin zu haben – einen Freund auf gar keinen Fall.»

Damit kommt das Treffen mit Veronika Lutz zu einem Ende. Frühling liegt in der Luft, sie will das gute Wetter noch dazu nutzen, sich um die Blumen in ihrem Garten zu kümmern – ebenfalls eine neu entdeckte Leidenschaft.

23. April 2016, 08:00
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Kommentare

  • René - vor 9 Jahre ↑13↓3

    Ich ziehe wie ein Bettler vor dem König den Hut vor dir liebe Vroni. Du bist ein Licht dass uns als Rasse Mensch einzigartig Macht, danke. Denn dass was du getan hast, ist mutig, kraftvoll und verantwortungsvoll dirselber gegenüber.
    Den Kritikern sage ich: Nennt mir nur 1 Beispiel, wo ihr ihn eurem kümmerlichen Leben mal mutig, kraftvoll oder verantwortungsvoll wart!
    Walliser Bote: diesmal eine Perle des Journalismus
    Wallis: eine geiler Kanton!

    antworten

  • Walliser - vor 9 Jahre ↑12↓13

    Also ich find es ja mega schön für die Person, dass sie glücklich ist. Trotzdem wenn ich sie so anschaue kann ich mich damit nicht anfreunden. Nims nicht persönlich aber meine Meinung.

    antworten

  • Mel Anie - vor 9 Jahre ↑32↓6

    Ich bewundere dich, Vroni! Eine sehr traurige Geschichte - mir kamen die Tränen.
    Schön, kannst du jetzt endlich glücklich sein! Ich wünsche dir alles, alles Gute für deine Zukunft! Und schön, hast du das Wallis als Heimat gewählt - bestimmt werden viele Menschen ihren Horizont öffnen und das ist ein wichtiger Schritt für mehr Toleranz!
    Du machst das genau richtig!

    antworten

  • freddy - vor 9 Jahre ↑14↓54

    Jetzt hat der WB dem Mann sicher den Todesstoss gegeben. Bravo! Blitzingen wird ihn jetzt sehr lieben. Er wird zum Gespött im Dorf. Keine anderen Themen? Macht mal guten Journalismus bitte.

    antworten

    • Claudio - vor 9 Jahre ↑9↓13

      @freddy, da muss ich dir vollkommen recht geben betreffend den Themen im WB. Es ist jedem Menschen selbst frei, wie und was er mit seinem Körper macht, aber braucht es tatsächlich für diese Geschichte eine ganze WB-Seite?

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