Verfassungsrat | Johan Rochel, Kopf der Bürgerbewegung «Appel Citoyen», die grosse Siegerin der Wahlen. Und jetzt?
«Nicht sicher, ob wir wirklich bunter sind als andere Parteien»
Wallis | Am Montag beginnt für den Verfassungsrat die Arbeit. Im Interview spricht Johan Rochel, treibende Kraft des «Appel Citoyen», über die Gefahren und Chancen in den nächsten vier Jahren.
Johan Rochel, drei Wochen sind seit den Verfassungsratswahlen vergangen, am Montag beginnt die Arbeit. Hatten Sie Zeit für eine Verschnaufpause?
«Nein, eigentlich nicht. Da wir keine Partei sind, mussten wir beim ‹Appel Citoyen› quasi bei null starten. Wir haben keine klassischen Parteistrukturen und kamen deshalb zusammen, um die grundsätzlichen Fragen zu diskutieren.»
Seid ihr Einzelkämpfer oder eine Mannschaft?
«Diese Frage mussten wir uns auch stellen. Wir haben uns gefragt, ob wir überhaupt zusammenarbeiten müssen oder ob wir 16 Leute sind, die einfach machen, was sie wollen. In diese fundamentalen Fragen mussten wir viel Zeit investieren. Das war sehr gut und interessant. Wir haben gemerkt, dass wir einige Praktiken aus den Parteien übernehmen werden, weil sie zielführend sind. Wir wollen ja Ideen vorschlagen und die Debatten prägen.»
Und was vereint die bunte Truppe des «Appel Citoyen», die als Gewinner aus den Wahlen ging?
«Ich bin mir gar nicht sicher, ob wir wirklich bunter sind als andere Parteien. Denn auch innerhalb der anderen Parteien sind die Mitglieder sehr divers. Eine Ausnahme ist vielleicht die SVP. Die Diversität ist dadurch entstanden, weil die Parteien ihre Listen geöffnet haben.»
Wie soll die Zusammenarbeit funktionieren?
«Wir haben uns so entschieden, dass wir zusammenarbeiten und als Gruppe auftreten wollen. Wir müssen eine Gratwanderung meistern. Wir wollen als Individuen so frei wie möglich bleiben und als Einzelpersonen auftreten. Aber bei strategischen Punkten wie den sieben zentralen Werten des ‹Appel Citoyen› müssen wir als Gruppe agieren. Jede Partei muss diese Überlegung machen. Im Sinne der Transparenz werden wir das offenlegen und publizieren. Dadurch wollen wir eine Reaktion der anderen Parteien provozieren. Sind sie auch bereit, ihre interne Arbeitsweise offenzulegen?»
Wie schwierig wird es, den Betrieb zum Laufen zu bringen?
«Das hängt von der Dynamik der Leute ab und beginnt bereits am Montag. Diese Sitzung hat einen wichtigen symbolischen Wert. Die Energie und der Enthusiasmus sind extrem wichtig. Bis im März geht es zunächst darum, das Reglement zu schreiben. Wir werden versuchen, dass in dieses Reglement eine gute Dynamik reinkommt, denn davon hängen die nächsten vier Jahre ab. Etwa wie viele Kommissionen es gibt und wie gross diese sind.»
«Die Sitzung am Montag hat einen wichtigen symbolischen Wert»
Wird sich die Arbeitsweise so einstellen wie beim Grossen Rat?
«Dass es Kommissionen geben wird, ist wohl klar, das gehört zur Arbeit in einem Rat. Am Anfang braucht es viel Zeit für eine offene Diskussion, wahrscheinlich rund zwei Jahre. Während dieser Zeit können wir alle Ideen offen auf den Tisch legen. Und erst später sollten wir sie bewerten. In den Jahren drei und vier kommt es dann zu den Entscheidungen. Das ist die problematischere Phase, was die Dynamik betrifft. Da geht es um Mehrheiten, ums Gewinnen und um Macht.»
Die Welt muss also nicht neu erfunden werden?
«Ich sehe ein gewisses Potenzial, dass die Führung anders laufen kann als im Grossen Rat. Im Grossen Rat ist der Druck der schnellen Entscheidung immer im Rücken. Das haben wir im Verfassungsrat nicht. Wir haben vier Jahre Zeit, um ein einziges Produkt zu schaffen. Die Dringlichkeit des Alltagsgeschäfts ist im Verfassungsrat nicht vorhanden. Das wird eine ganz andere Stimmung entwickeln.»
Und wie tritt der Verfassungsrat gegen aussen auf?
«Die Bevölkerung sollte möglichst früh in den Prozess integriert werden. Sie sollten kommentieren können, was im Rat diskutiert wird, das ist extrem wichtig. Denn der Rat ist zwar verantwortlich, aber die Bevölkerung soll darauf einen kritischen Blick werfen und die Diskussion bereichern können. Nach vier Jahren sollten alle Leute sagen dürfen: Das ist meine Verfassung. Jeder, der dieses Gefühl haben wird, wird zum fertigen Produkt Ja sagen.»
Kann der Verfassungsrat auch zu einem Raum für Experimente werden?
«Ja, muss er sogar. Davon könnten auch andere später profitieren. Der Grosse Rat ist zu starr, um Experimente zu wagen. Insbesondere im Bereich der digitalen Demokratie können wir viel ausprobieren, denn wir haben nichts zu verlieren. Nur durch Experimente kann man erfahren, was funktioniert und was nicht. So etwa bei der E-Repräsentation. Wenn jemand einmal physisch nicht anwesend sein kann, sollte er trotzdem via Internet an der Sitzung teilnehmen können.»
Am Anfang werden die Debatten sehr zentral sein. Erfahrene Grössen wie Jean Zermatten und Philipp Bender stehen Neulingen gegenüber. Besteht die Gefahr, dass die Erfahrenen das Ruder an sich reissen?
«Das glaube ich nicht, denn: Niemand hat Erfahrung im Verfassungsrat. Wir müssen vor allem das Wissen aus den anderen Kantonen berücksichtigen. Aber klar, diejenigen, die viel und laut reden, müssen Platz machen für andere Meinungen und Persönlichkeiten. Und diejenigen, die nicht so laut reden, müssen laut werden und sich ihren Platz nehmen.»
Haben Neulinge sogar Vorteile?
«Diejenigen ohne politische Erfahrung haben keine Vormeinung, wie der Betrieb funktionieren soll. Sie sind freier im Kopf und das kann sehr interessant und bereichernd sein. Das haben wir bei ‹Appel Citoyen› bereits gemerkt. Leute, die nicht wissen, wie man in der Regel Politik macht, haben eine andere Vorstellung, wie Politik funktionieren soll. Da kommen viele gute Vorschläge.»
Am Anfang ist die Motivation sicherlich gross. Vier Jahre sind aber eine lange Zeit. Wird die Motivation reichen?
«Das ist ein grosses Risiko für den Betrieb und das müssen wir ernst nehmen. Wir wissen aus den anderen Kantonen, dass viele innerhalb der vier Jahren aufhören. Viele aus legitimen Gründen, aber auch viele, weil sie keine Lust mehr haben. Da steht die Kohärenz der ganzen Übung auf dem Spiel. Um den Enthusiasmus beizubehalten, brauchen wir eine gute Arbeitsstimmung. Vier Jahre an einem juristischen Text zu arbeiten, ist eine grosse, kräftezehrende Aufgabe.»
Im Oberwallis war die Euphorie bedeutend kleiner als im Unterwallis. Woran lag das?
«Wir sind gescheitert, diese Zivilbewegung auch im Oberwallis starkzumachen. Die unterschiedliche Einstellung in der Kampagne könnte eine unterschiedliche Stimmung nach Sitten bringen. Die Oberwalliser haben vielleicht noch die R21 im Hinterkopf und sind vorsichtiger. Jetzt müssen wir eine gute Stimmung entwickeln. Und da spielt die Symbolik eine wichtige Rolle.»
Was kann man dafür tun?
«Wir haben zum Beispiel den Vorschlag gemacht, dass die Leute am Montag nicht nach Bezirken sitzen, sondern ihren Platz per Los bekommen. Das wäre ein schönes Signal an die Zweisprachigkeit gewesen. So sässe jemand aus Brig neben jemandem aus Martinach. »
«Wenn jemand nicht kann, sollte er via Internet an der Sitzung teilnehmen können»
Die Stimmung und die Einbindung der Bevölkerung werden entscheidend sein, ob die Verfassung in vier Jahren angenommen wird.
«Dass die Verfassung nicht angenommen wird, ist nicht meine Sorge. Sie wurde bisher in allen anderen Kantonen angenommen, also weshalb nicht auch im Wallis? Es gibt aber wissenschaftliche Studien dazu, dass der Entstehungsprozess der Verfassung wichtiger ist als das Endprodukt. Teilhabe am Prozess ist der Schlüssel. Das dürfen wir nicht falsch machen.»
Das Parteiensystem ist in vielen Ländern poröser geworden. Wird der «Appel Citoyen» nach der neuen Verfassung weiterhin politisch mitmischen?
«Nein, da ist unsere Haltung sehr klar. Wir werden nach der letzten Abstimmung wieder verschwinden, das steht so in den Statuten. Wir sind nur für die neue Verfassung da. Ich hoffe aber, dass von den insgesamt 96 Kandidaten einige der Politik treu bleiben werden. Auf freien Listen oder bei anderen Parteien. Vielleicht werden sie auch neue Bewegungen starten.»
Und Sie persönlich? Sie sind doch für eine politische Karriere geschaffen.
«Das nehme ich als ein Kompliment.»
Streben Sie ein politisches Amt an?
«Ich mache seit zehn Jahren Politik, aber nicht im Sinne von Parteipolitik. Das werde ich auch nach der Verfassung machen. Bislang gibt es aber noch keinen Plan, in die Parteipolitik einzusteigen. Ich wohne mit meiner Familie in Zürich. Sowohl die Parteien und die Netzwerke sind hier nicht die gleichen wie im Wallis. Die Welt ist mobiler geworden und vielleicht wohne ich in ein paar Jahren in Lausanne. Mobilität ist in unserem politischen System ein grosses Hindernis.»
Wenn Sie die Verfassung in vier Jahren durchlesen, wie muss sie aussehen, damit Sie stolz auf Ihre Arbeit sind?
«Ich möchte, dass die grossen Themen wie die Nachhaltigkeit und Chancengleichheit in allen Bereichen vorhanden sind. Dass sich die wichtigen Themen nicht nur einzeln, sondern wie mit einem roten Faden durch die Verfassung durchziehen. Ich möchte aber nicht nur auf das Produkt stolz sein, sondern auf den Prozess. Der Prozess liegt mir stärker am Herzen als das Endprodukt.»
Mathias Gottet
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