Architektur | Rita Wagner und Gerold Vomsattel machen sich Gedanken zum Wohnen der Zukunft
Neue Wohnformen gesucht

Mehrere Generationen. Im Haus der Familie Seiler-Wagner befinden sich Wohnungen für weitere Verwandte. (Vomsattel Wagner Architekten)
Foto: Thomas Andenmatten

Rita Wagner und Gerold Vomsattel.
Foto: Walliser Bote
Oberwallis | Die Gesellschaft befindet sich im Umbruch. Immer mehr Menschen leben anders als in klassischen Familienstrukturen: Singles, Paare, Alleinerziehende, Patchwork-Familien oder allein lebende ältere Menschen. Zudem wird das Bauland knapp. Zeit also, um über neue Wohnformen nachzudenken, die sowohl Individualität als auch Gemeinschaftssinn zulassen würden.
Architektur ist eng verbunden mit den Lebensweisen, Überzeugungen, Wert- und Traumvorstellungen einer Gesellschaft. Der Soziologe Norbert Elias schrieb dazu: «Die Art und Weise, wie wir wohnen, ist immer ein Anzeiger gesellschaftlicher Strukturen.»
Gerold Vomsattel, Architekt FH BSA, erklärt am Beispiel von Visperterminen, wie sich die Ansprüche ans Wohnen mit den Jahren verändert haben: «Im alten Dorfkern stehen fast ausschliesslich Häuser mit mehreren Wohnungen. Unter anderem wollte man das Land rundherum schonen. In den 1950er- und 1960er-Jahren entstand rund um diesen Kern ein Ring mit kleineren, architektonisch schönen Mehrfamilienhäusern. Ein paar Jahre später war Geld zum Reisen vorhanden und das wirkte sich auch auf die Architektur aus. Es entstand ein neuer Gürtel mit übergrossen Gebäuden mit Tiroler Balkons.» In den letzten zehn Jahren seien in Visperterminen fast ausschliesslich Einfamilienhäuser ausserhalb des Dorfkerns entstanden, sagt Gerold Vomsattel. Das seien Generationenkreise; jede Architekturschicht stelle die Traumvorstellung einer Generation dar.
Vom Einfamilienhaus zum Qualitäts-Mehrfamilienhaus
Rita Wagner, Architektin ETH BSA, relativiert den Traum vom Einfamilienhaus: «Es gibt immer mehr junge Paare, für die der Bau eines Einfamilienhauses nicht mehr der absoluten Wunschvorstellung entspricht. Sie suchen nach neuen Wohnformen.» Gründe dafür gibt es viele: sinnvolles Verdichten, raumplanerische, ökologische, ökonomische und gesellschaftliche Aspekte. «In einem Einfamilienhaus lebt man abgeschottet. Man ist nur für sich und hat wenig Kontakte zu den Nachbarn. Sobald man mit drei, vier anderen Familien zusammenwohnt, ergeben sich ganz andere soziale Begegnungen. Es gibt Berührungsflächen im Hof, im Garten oder beim Eingangsbereich», nennt Rita Wagner Vorteile eines kleinen Mehrfamilienhauses mit gemeinsamen Aussen- oder Innenräumen. Viele Paare würden beim Bau eines Einfamilienhauses bereits daran denken, wie sie das Haus im Alter noch bewohnen könnten. Aber die Realität sei eine ganz andere. Die wenigsten Paare würden mit 70 noch gemeinsam in ihrem Einfamilienhaus leben. «Fast 50 Prozent der Paare trennen sich. Wenn die Finanzen nicht ausreichen, muss das Haus verkauft werden. Da hätten sie in einem mehrschichtigen Mehrfamilienhaus viel mehr Möglichkeiten», sagt die Architektin. In Grossstädten habe man schon Erfahrungen gesammelt mit solchen Modellen. Da bliebe bei einer Scheidung der Elternteil mit den Kindern in der Stammwohnung und der andere habe eine kleinere Wohnung des Mehrfamilienhauses bezogen. So hätten alle in der gewohnten Umgebung bleiben können.
Flexible Wohnformen
Was Rita Wagner unter einem mehrschichtigen Mehrfamilienhaus versteht, erklärt sie so: «Das kann verschiedene Wohnformen beinhalten. Das könnte zum Beispiel ein Mehrgenerationenhaus sein, in dem sich verschieden grosse Wohnungen befinden. Das ergäbe für den Alltag interessante Konstellationen. Eine integrierte kleinere Wohnung würde den Grosseltern ermöglichen, nahe bei ihren Enkeln zu sein.» Das stelle durchaus ein Konzept gegen die Vereinsamung dar und käme auch berufstätigen Eltern entgegen. Ein Mehrfamilienhaus könne aber auch bedeuten, dass sich ein paar junge Familien zusammenschliessen und eine Baugenossenschaft gründen. «So können sie wählen, mit wem sie wohnen möchten. Die Kinder haben Spielgefährten, die Kosten für das Bauland sowie die technischen Einrichtungen und der ökologische Fussabdruck sind massiv kleiner, als wenn jede Familie ein Einfamilienhaus bauen würde», nennt Rita Wagner die Vorteile dieser Bauweise.
Eine Einbusse in der Qualität des individuellen Wohnens ist ihrer Meinung nicht gegeben. Denn alle Beteiligten hätten dabei trotzdem die volle Gestaltungsfreiheit, was ihre Wohnräumlichkeiten betrifft. Durch das verdichtete Wohnen, das ressourcenschonender für den Boden ist, hätte man mehr Raum für einen Innenhof, Spielplatz oder Gärten zur Verfügung, und die soziale Einbettung sei eine ganz andere als im Einfamilienhaus.
Belebte Dorfkerne
Denkbar wäre auch, dass sich ein Bauherr ein kleineres, älteres Mehrfamilienhaus kauft, darin eine Wohnung für sich umbaut und die anderen weiterverkauft. Dadurch wäre möglich auszuwählen, mit wem man unter einem Dach leben möchte. «Solche Wohnformen wirkten dem Verfall der Dorfkerne entgegen. Wenn ein paar Bauherren miteinander eine alte Häuserzeile kaufen und renovieren würden, könnten die Dorfzentren wiederbelebt werden.»
Soziales Engagement
Gerold Vomsattel fände es begrüssenswert, wenn auch im Wallis finanzstarke Personen oder Institutionen in solche Wohnformen investierten. «Solche Bauherren müssten nicht nur die maximale Rendite als Ziel haben, sondern auch bereit sein, ein soziales Engagement zu leisten. Klar muss die Rendite auch stimmen. Aber sie sollte nicht immer im Vordergrund stehen.» Leider seien solche Bauherren im Oberwallis dünn gesät. In den letzten Jahren sei im Talgrund ein sehr grosses Bauvolumen entstanden. Von der Typologie her seien diese Bauten fast immer identisch. «Es sind einfach Blöcke, reine Zweckbauten. Von Innovation ist kaum etwas zu sehen», bedauert Gerold Vomsattel.
Wünschenswert fände er, wenn zum Beispiel Pensionskassen als Baugenossenschaften auftreten würden und in neue Wohnformen und verdichtetes Wohnen investierten. «Im Wallis gibt es Schaf-, Ziegen- und Landwirtschaftsgenossenschaften. Diese entstanden aus einer Not heraus, weil man alleine nicht vorwärtsgekommen wäre. Baugenossenschaften sucht man im Wallis, im Gegensatz zu den grossen Städten der übrigen Schweiz, fast vergebens.»
In Grossstädten wie Zürich oder Basel entstanden in den letzten Jahren immer mehr «Cluster-Wohnungen». Rings um eine riesige Wohnküche und ein gemütliches Wohnzimmer führen Türen in verschiedene kleine Wohnungen. In Städten, wo man verdichtet und vereinzelt lebt, sollen solche neuen Wohnformen es trotzdem ermöglichen, in einer Gemeinschaft zu leben. In derartigen Wohnungen leben dann vielleicht ein Paar, eine alleinerziehende Mutter, eine ältere Frau und ein junger Mann. Die Vorteile der Gemeinschaft könnten darin bestehen, dass sich die ältere Frau manchmal um das Kind der Alleinerziehenden kümmert, wenn diese zur Arbeit muss. Sie können sich gegenseitig aushelfen, gemeinsam kochen und diskutieren. Sie können sich aber auch in ihre privaten Räume zurückziehen, wenn sie das möchten.
Gerold Vomsattel denkt, dass sich urbane Wohnformen nicht eins zu eins auf Walliser Verhältnisse übertragen lassen. Die Gesellschaft befinde sich im Wandel. Das steht für ihn ausser Frage: «Der moderne Arbeitsmarkt verlangt von uns grosse Flexibilität. Viele wissen nicht, wie lange sie an einem Ort bleiben. Wer sich für flexiblere Wohnformen interessiert, hat vielleicht eine urbanere Denkweise und ist gedanklich freier als jemand, für den traditionellerweise nur ein Einfamilienhaus infrage kommt.»
Wohnen in der Gemeinschaft wird wohl in Zukunft nicht einzig wegen der knappen räumlichen und finanziellen Ressourcen ein vielversprechendes Modell sein, sondern auch wegen der sich verändernden familiären Strukturen.
Nathalie Benelli
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