Interview | Kinderarzt Dr. Simon Fluri

«Es ist keine Katastrophe, wenn die Patientenakte fehlt»

«Der Oberwalliser ist ein anständiger Kunde mit gesundem Menschenverstand», sagt Pädiater Simon Fluri.
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«Der Oberwalliser ist ein anständiger Kunde mit gesundem Menschenverstand», sagt Pädiater Simon Fluri.
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Dr. Simon Fluri ist Chefarzt Pädiatrie am Spitalzentrum Oberwallis (SZO) und Co-Präsident der Walliser Kinderärzte. Im Interview spricht er über die Versorgungssicherheit durch Pädiater im Oberwallis und ­Rezepte für eine erfolgreiche Nachfolgeregelung.

Dr. Fluri, eine Kinder behandelnde Allgemeinärztin in Brig hat vergangene Woche von hier auf jetzt ihre Praxis geschlossen. Was ging ­Ihnen durch den Kopf, als Sie davon erfahren haben?

Ich möchte zunächst festhalten, dass ich die Hintergründe für den angesprochenen Schritt, den die Ärztin unternommen hat, nicht kenne. Wenn man aber erfährt, dass eine Medizinerin plötzlich ihren Job aufgibt, so macht das sicherlich betroffen. Ich hoffe natürlich, dass sich die ­Situation für die Kollegin klärt, und sie ihre ­Karriere in einer Weise fortsetzen kann, die ihr besser entspricht.

Hatten Sie keine Bedenken, dass die Kinderstation im Spital von Eltern mit ihren ­Kindern überrannt wird, immerhin standen plötzlich Hunderte Familien ohne Kinder­ärztin da?

Nein, diese Sorge hatte ich in diesem Moment nicht und es hat sich auch gezeigt, dass diese Einschätzung richtig war. Wir hatten auf unserer Notfallstation nicht mehr Patienten als sonst.

Nach Bekanntwerden, dass die Ärztin ihre Praxis kurzfristig schliesst, versammelten sich einigen Eltern vor dem Gebäude, um die Patientenakten ihrer Kinder zu «retten». ­­Haben Sie Verständnis für dieses Verhalten?

Normalerweise wird die Aufgabe einer Praxis frühzeitig kommuniziert und auch die Weitergabe der Patientenakten geregelt. In diesem Fall hingegen verbreitete sich die Nachricht über die plötzliche Schliessung der Praxis über die sozialen Medien und löste hier eine Art Schockwelle aus. Vor diesem Hintergrund verstehe ich natürlich die Verunsicherung der Eltern und ihr ­Bedürfnis, möglichst rasch an die Krankenakten ihrer Kinder zu kommen. Zum Glück haben Dr. König und seine Familie rasch eine Lösung gefunden, um die Weitergabe der Akten zu
organisieren.

Aber ist die Aufregung um die Patientenakten gerechtfertigt? Diese könnten ja schliesslich auch anderweitig verloren gehen, zum Beispiel durch einen Brand.

Selbstverständlich ist es nicht überlebenswichtig für ein krankes Kind, dass die Patientenakte vorliegt. Verschwindet eine Krankenakte aus ­irgendeinem Grund, so ist die Dokumentation der Krankengeschichte aber sicher komplizierter. Es fehlen dem nachfolgenden Arzt gewisse Angaben. Aber jedes Kind hat in der Schweiz ein Gesundheitsbuch und einen Impfpass, in dem schon viele Daten festgehalten sind. Liegt eine spezielle, schwerwiegende Krankheit bei einem Kind vor, so ist dieses meistens ja auch bei einem Spezialisten in Behandlung. Dieser hat ebenfalls Kopien der medizinischen Berichte, welche jederzeit wieder angefordert werden können. Es ist sicher einfacher für einen Arzt, wenn ein komplettes Dossier vorliegt, allerdings ist es keine Katastrophe, wenn die Patientenakte fehlt. Es ist so wie wenn Sie Ihr Portemonnaie verlieren. Die Welt geht nicht unter, mühsam ist es aber schon. Dadurch, dass immer mehr Praxen auch elektronische Patientenakten führen, die auf ­externen Servern zusätzlich gesichert werden, wird es zudem immer unwahrscheinlicher, dass eine Patientenakte unwiederbringlich verloren geht. Ob dies im Briger Fall so ist, kann ich allerdings nicht beurteilen.

Liest man die Berichte und betrachtet die ­Bilder des Vorfalls in Brig, so hat man das ­Gefühl, dass der Druck, den die Eltern auf die Ärztin in dem Moment ausgeübt ­haben, doch recht gross war. Steigt der Druck auf die Kinderärzte durch die Eltern, ähnlich wie man es auch immer wieder aus dem Schulbetrieb hört?

Ich bin der Meinung, dass Medizin genau gleich wie die Schule eine Dienstleistung ist, die man an der Gesellschaft erbringt. Die Leute bezahlen dafür, direkt oder in Form von Steuern. Deshalb ist es in Ordnung, dass uns eine gewisse Erwartungshaltung entgegengebracht wird. Ich kann aber aus Erfahrung sagen, dass diese Erwartungshaltung und der damit verbundene Druck im Oberwallis deutlich geringer ist, als zum Beispiel in Bern, wo ich ebenfalls gearbeitet habe. Der Oberwalliser ist ein anständiger Kunde mit gesundem Menschenverstand. Klar, es werden auch hier Forderungen gestellt, dies ist jedoch wie gesagt gerechtfertigt. Generell wird uns viel Verständnis entgegengebracht, zum Beispiel wenn ein Kinderarzt aus welchen Gründen auch immer kurzfristig überlastet ist.

Kommen wir auf die Versorgungssicherheit zu sprechen. Das Oberwallis hat nun eine Ärztin weniger, die Kinder behandelt. Gleichzeitig spricht eine Briger Gruppenpraxis davon, dass es im Oberwallis in Zukunft mehr ­Kinderärzte brauchen wird. Brauchen wir ­tatsächlich mehr Pädiater?

Das Bedürfnis der Menschen, auch in der Pädiatrie, nach Spezialisten wird immer grösser. Die Leute wollen, dass ihr Bauchweh von einem Magen-Darm-Spezialisten untersucht wird, wenn sie ein Stechen in der Brust haben, so soll sich das ein Kardiologe ansehen. Das Gleiche gilt auch in der Kindermedizin. Dieser Trend wird sich fortsetzen. Dass geht so weit, dass ein Kinderarzt immer mehr mit einem anderen Kinderarzt zusammenarbeiten wird, der auf ein spezielles Organ spezialisiert ist.

Das heisst ein Kinderarzt ist schon nicht mehr spezialisiert genug?

Das kann man so sagen. Ich selbst bin allgemeiner Pädiater, mit Spezialisierung auf Neugeborene. Ich weiss natürlich, wie man ein Kind mit Asthma behandelt, wenn ich aber merke, dass eine Asthmabehandlung sich schwieriger gestaltet, so greife ich auf das Fachwissen eines Kollegen zurück, der auf Atemwegserkrankungen bei Kindern spezialisiert ist. Als Arzt darf man das aber nicht als Niederlage sehen. Die Medizin hat sich dermassen entwickelt, dass man als Generalist ab und zu an Grenzen stösst. Wichtig ist, dass der Fokus immer darauf liegt, dem Kind die bestmögliche Behandlung zukommen zu lassen. Vor diesem Hintergrund muss ich die Frage, ob es im Oberwallis mehr Kinderärzte bracht, mit Ja beantworten, da die moderne Medizin immer personalintensiver wird.

Aber statistisch gesehen ist die Versorgung durch Kinderärzte im Wallis überdurchschnittlich im Vergleich zu anderen Landesteilen.

Das stimmt, allerdings ist diese Statistik auch gefährlich, denn sie sagt nichts über das Arbeitsvolumen dieser Kinderärzte aus. Sie erfasst ­lediglich die zugelassenen Pädiater pro Einwohnerzahl und nicht, ob sie einen oder fünf Tage die Woche arbeiten. Wobei die Tendenz, gerade bei jungen Medizinern in die Richtung geht, dass man eben nicht mehr 70 bis 80 Stunden pro Woche arbeiten will. Junge Leute, nicht nur in der Medizin, legen viel mehr Wert auf ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Arbeit und Freizeit. Daher sage ich: Es braucht im Wallis, wie überall in der Schweiz, nicht mehr Pädiater-Stunden, aber es braucht mehr Köpfe, die sich diese Stunden aufteilen.

Und wie sieht die Lösung für dieses Problem aus? Erst neulich konnte man im «Blick» ­lesen, dass der Visper Kinderarzt Dr. Alain ­Wimmersberger seit zehn Jahren auf der ­Suche nach einem Nachfolger ist, was nicht gerade viel Mut macht, dass sich künftig ­personenmässig deutlich mehr Kinderärzte bei uns niederlassen werden. Ist es so, dass Kinderärzte im Wallis zu wenig verdienen, wie Ärztepräsidentin Dr. Monique Lehky Hagen immer wieder betont und deshalb derzeit für höhere Löhne kämpft.

Das vergleichsweise tiefe Einkommen spielt ­sicher eine Rolle und wird auch den einen oder anderen jungen Pädiater davon abhalten, sich im Wallis niederzulassen. Aber ich glaube, dass der Lohn nur ein Teil des Problems ist. Junge Mediziner stellen heute andere Ansprüche an ihre Arbeit und ihre Freizeit, als dies früher der Fall war. Sie wollen daher nicht allein eine riesige Praxis wie jene von Dr. Wimmersberger übernehmen und 70 Stunden pro Woche arbeiten müssen. Ganz im Gegenteil. Viele wollen gar nicht selbstständig sein, sondern suchen eher ein Anstellungsverhältnis. Dieser Entwicklung müssen wir Rechnung tragen und wir müssen unsere Hausaufgaben selbst erledigen, wie können nicht von der Politik verlangen, diesen Job zu erledigen.

Was heisst das?

Sicher einmal, dass wir mehr Zeit für die Nachfolgeregelung aufwenden müssen. Es liegt an uns, unsere Praxen so aufzustellen, dass sie als Arbeitsort für junge Mediziner attraktiv sind. Konkret müssen wir wie gesagt nicht mehr einen, sondern mehrere Nachfolger suchen. Das braucht Zeit und verlangt eine gewisse Flexibilität. Vielleicht findet man einen dieser Nachfolger schon, wenn man 63 Jahre ist. Dann kann man aber diesen nicht noch um zwei Jahre vertrösten, sondern muss halt schon vorher etwas zurückstecken, natürlich auch finanziell. Dann müssen wir junge Mediziner für die Arbeit als Pädiater einerseits und für den Arbeitsort Oberwallis andererseits schon während deren Ausbildung begeistern, indem wir zum Beispiel Praktikums- oder Ausbildungsplätze in den Praxen anbieten. Und wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass Praxen in Zukunft noch verkauft werden können, denn die Bereitschaft dazu ist bei jungen Ärztinnen und Ärzten kaum mehr vorhanden.

Die fehlenden Kinderärzte durch Allgemeinmediziner zu ersetzen ist dabei keine Option?

Nein. Zwar ist es so, dass gerade in den Seiten­tälern die Hausärzte auch Kinder mitbetreuen und dies auch gut machen. Allerdings sieht die Weltgesundheitsorganisation vor, dass jedes Kind unter 18 Jahren auf die Dienste eines Kinderarztes zurückgreifen können sollte, die Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie hat die Grenze bei 16 Jahren festgelegt. Deshalb ist es ­sicher zentral, dass sich mehr Kinderärzte im Oberwallis niederlassen.

Haben wir denn einen Notstand, was die ­Versorgung des Oberwallis durch Kinderärzte ­betrifft?

Ein Versorgungsnotstand besteht sicher nicht. Alle Kinderärzte im Oberwallis nehmen Kinder auf, die weniger als zwei Jahre alt sind. Zudem stehen auch alle Praxen jenen Kindern offen, die an schweren Erkrankungen leiden. Und für alle anderen Notfälle steht das Spitalzentrum Oberwallis zur Verfügung. In diesem Zusammenhang darf man auch nicht vergessen, dass die Kinderarztpraxen am Wochenende immer schon geschlossen hatten, und während zwei Tagen immer schon auf die Dienste des Spitals zurückgegriffen werden musste. Das SZO verfügt rund um die Uhr über ein kompetentes Kinderärzteteam.

Im «Walliser Boten» liessen Sie sich mit den Worten Pädiatrie sei wie ein Gourmetrestaurant zitieren. Was meinen Sie damit?

Wir wollen und müssen die beste Qualität für die Versorgung der Kinder anbieten können. Das bedeutet, dass wir uns nicht dazu verleiten lassen dürfen, zugunsten von Quantität auf Qualität zu verzichten. Es ist daher sicher nicht im Sinne einer guten Versorgung, wenn wir, um unseren Bedarf zu decken, Pädiater aus dem Ausland anstellen, die unseren Vorstellungen von Qualität aber eigentlich nicht genügen. Das ist der eine Punkt. Dann ist es aber auch so, dass man bei qualitativ hochstehenden Angeboten ab und zu Wartezeiten in Kauf nehmen muss. Daher der Vergleich mit der Gourmetküche. In diesem Zusammenhang möchte ich aber klar betonen, dass es in der Regel kein Problem für die Gesundheit eines Kindes darstellt, wenn man für eine Routinekontrolle oder eine Impfung auch einmal ein paar Monate warten muss.

Martin Meul

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Infos

Zur Person

Vorname Simon
Name Fluri
Geburtsdatum 1. Mai 1973
Familie verheiratet, ein Kind
Beruf Pädiater
Funktion Chefarzt Pädiatrie SZO
Hobbies Joggen, Reisen, Kochen, Skitouren

Nachgehakt

Kinderärzte, die 70 Stunden pro Woche ­arbeiten, wird es nicht mehr geben. Ja
Die Politik ist immer noch blind für die ­Versorgungsproblematik. Nein
Allgemein- und Kinderärzte im Wallis ­verdienen zu wenig. Ja
Der Joker darf nur einmal gezogen werden.  

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